Flammenpferd
Die Tür zum Dachboden klemmte, und Hella musste kräftig dagegen drücken, um sie zu öffnen. Sie tastete nach dem Lichtschalter. Einige alte Möbel standen vor der einen und ein Stapel Kisten vor der anderen Giebelwand. Hella steuerte einen Schrank an, in dem schon die Eltern selten gebrauchte Dinge aufbewahrt hatten, und nahm die Tasche heraus. Sie wollte wieder nach unten gehen, als ihr im Lichtschein etwas Sonderbares auffiel. Da waren Fußspuren, Abdrücke glatter Sohlen, und auf den staubigen Bodendielen verwischt, aber eindeutig zu erkennen. Sie führten in gerade Linie auf die gegenüber liegende Giebelwand zu. Hella folgte ihnen bis zu den Kisten und stellte fest, dass die verstaubten Pappdeckel mit Fingerabdrücken übersät waren. Kein Zweifel, irgendjemand hatte die Kartons durchsucht, in denen, wie Hella mit einer hastigen Überprüfung fest stellte, der Familienbesitz mehrerer Generationen eingelagert war. Alles Mögliche befand sich darunter. Ein von Motten zerlöcherter Pelzmantel ebenso wie ihr eigenes abgegriffenes Spielzeug, das sie mit einem Anflug von Wehmut in die Hände nahm. Ob aus den Kartons etwas fehlte, war unmöglich fest zu stellen. Ebenso wenig ließ sich die Frage beantworten, wer hier oben herum geschnüffelt hatte. Und wann. Es konnte Wochen her sein. Oder stand es womöglich im Zusammenhang mit ihrer Vermutung, dass sich vor wenigen Stunden jemand in ihrem Zimmer aufgehalten hatte? Sie würde Jette und Maren dringend ans Herz legen, das Haus rund um die Uhr verschlossen zu halten.
4
Ein warmer Wind blies ihr den Sprühregen entgegen, als sie die Flughafenhalle verließ und sich auf dem Vorplatz nach dem blauen Geländewagen umschaute, der sie abholen sollte. Jettes Vorhersage traf zu. Die feuchte Luft duftete verführerisch nach Frühling. Vielleicht fand der Winter nie den Weg bis nach Faro, keinesfalls stellte sich hier der norddeutsche Winter mit allen seinen Unwägbarkeiten ein. In Hameln war am frühen Morgen ein Eisregen nieder gegangen und hatte die Straßen in einer dicken Schicht überfroren. Dem Taxifahrer war auf dem kurzen Stück bis zum Bahnhof eine Verwünschung nach der anderen eingefallen, während er den Wagen im Schneckentempo vorwärts lenkte. Auf die letzte Minute war sie, mit dem schweren Gepäck in der Hand, zum Gleis hinauf gehastet, um dort frierend und unruhig eine drei viertel Stunde auf die S-Bahn zu warten, die sie nach Hannover-Langenhagen bringen sollte. Ihre Sorge, das Flugzeug zu verpassen, hatte sich als unbegründet herausgestellt. Alle Flüge starteten mit Verspätung, und für Stunden blieb unklar, ob das Flugzeug nach Faro überhaupt abheben würde. Aber nun war sie endlich angekommen, zwar erst am Nachmittag und viele Stunden später als geplant, trotzdem war von ihren Gastgebern keine Spur zu sehen. Sie nahm die Reisetasche auf, an der als verabredetes Zeichen die Reitkappe baumelte, und wollte gerade einen Stand ansteuern, um einen Kaffee zu trinken und zu telefonieren, als ihr ein Mann mit weiten Schritten entgegen eilte. Er mochte Mitte fünfzig sein, mit vollen weißen Haaren und einer schlanken Figur. Seine braun gebrannten Arme ließen darauf schließen, dass er kein Tourist war, sondern seit längerem im Süden lebte, und sein Deutsch hatte einen eindeutig bayerischen Zungenschlag.
„Bedaure, dass Sie warten mussten!“ Er reichte ihr die Hand und griff dabei kräftig zu. „Ich bin Bernd Klinghöfer. Willkommen in Portugal!“
„Sie mussten ja auf mich warten“, erwiderte Hella.
Klinghöfer lächelte breit. „Kein Problem, hier unten im Süden lernt man Geduld. Außerdem war es eine gute Gelegenheit, einige Besorgungen zu machen und das reparierte Sattelzeug abzuholen.“
Er packte den Koffer und hastete einer Reihe parkender Wagen entgegen. Hella sog tief die frische milde Luft ein, und als sie ihm folgte und in einen bis zu den Türen mit Schlammspritzern bedeckten Geländewagen stieg, auf dessen breiter Rückbank sich ein Dressursattel und einige Trensen und Halfter neben zwei Kartons voller Lebensmittel drängten, stellte sich endlich dieses freudige Kribbeln ein, das zu jedem Start in den Urlaub gehörte. Sie beschloss, sich die kommenden Tage nicht durch düstere Gedanken verderben zu lassen; weder durch Erinnerungen, noch durch Fragen über den unbekannten Besucher des Dachbodens. Klinghöfer trommelte mit den Fingerspitzen aufs Lenkrad und murmelte etwas urbayerisches Deftiges, als ein betagter Lastwagen erst die
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