Flammenpferd
sich hier allerdings nicht getroffen. Zwar waren beide Schülerinnen des Viktoria-Luise-Gymnasiums gewesen, aber sie hatten unterschiedliche Klassen besucht und sich gegenseitig nicht zur Kenntnis genommen. Jette genoss die ausgedehnte Mittagspause. Sie konnte sich Zeit lassen bis zu einer Besprechung um zwei Uhr.
Hella lehnte sich zurück. Sie war müde. Die schummrige Beleuchtung der Nische passte zu ihrer Stimmung. Den Teller mit der halb gegessenen Pizza Italia hatte der Kellner abgeräumt. Trübsinnig rührte sie im Cappuccino. „Im letzten Urlaub war ich in Amerika. Dort kam mir die Idee mit der Reha-Klinik. Wenn ich gewusst hätte, was ich damit alles auslöse! Manchmal wünschte ich, ich wäre brav bei Simon in Wiesbaden geblieben. Dann hätte sich mein Leben nicht so radikal verändert.“ Sie ließ den Löffel los, der klappernd auf die Untertasse rutschte, und fügte stockend hinzu. „Und die anderen wären vielleicht noch am Leben.“
Jette griff nach ihrer Hand. Ihre Haut fühlte sich glatt und kühl an. „So ein Unsinn. Wie hättest du Nellis tödlichen Unfall verhindern sollen? Ihr Tod war ebenso tragisch wie der von Philipp. Er wollte seine Hündin aus dem Teich retten und ist dabei ertrunken. Und was Thies betrifft, weiß ich, dass du das anders siehst.“ Sie hielt seinen Selbstmord für den eindeutigen Beweis, dass er der Pferdemörder war.
„Mit meinem Chef ist alles geklärt“, verkündete sie dann mit einem zufriedenen Lächeln und wickelte sich eine lange rote Haarsträhne um die Fingerspitzen. „In der nächsten Woche habe ich Urlaub und könnte zusammen mit Maren die Stallarbeit übernehmen.“
Hella setzte die Tasse an und trank den Rest des Cappuccinos. Er war viel zu süß. Gegen ihre Gewohnheit hatte sie einen Löffel Zucker genommen. „Ich kann nicht zulassen, dass du deinen Urlaub für die Stallarbeit opferst.“
Jette ließ die Haarsträhne los. „Was heißt hier opfern? Ich freue mich darauf. Du weißt doch selbst, wie das ist, wenn man Tag für Tag mit Bürokram, Telefonieren und nervenden Diskussionen beschäftigt ist. Ständig will einer was. Ein paar Tage mit den Pferden sind für mich die reinste Erholung!“
Jette arbeitete mit Begeisterung für den Hamelner Fremdenverkehrsverein. Aber ab und zu sehnte sich jeder nach Abwechslung und Ruhe. Hinter Hella lagen genügend hektische Jahre im Büro, und sie wusste die morgendliche Ungestörtheit im Stall sehr zu schätzen. Als sie nun über die täglichen Arbeiten und den Ablauf im Stall sprachen, gewann sie ihre pragmatische Gemütslage zurück.
Allmählich hellte sich auch ihre Stimmung auf. Mit einem Lächeln sagte sie „Was Maren und die Pferde betrifft: von denen hast du kein endloses Palaver zu befürchten. Mit den Reitern sieht es schon anders aus.“
Jette strich sich die Haare über die Schulter zurück. „Mit den Leuten werde ich klar kommen, und auch mit der Stallarbeit. Mach dir darüber keine Gedanken. Maren kennt sich aus, und zur Not können wir dich über das Handy erreichen. Stell dir vor: in Portugal blühen die ersten Blumen.“
Von Frühling war in Hameln noch nichts zu spüren. Vorhin hatte es sogar geschneit und jeder Schritt hatte einen dunklen Abdruck auf dem Pflaster hinterlassen. Von dem norddeutschen Schmuddelwinter hatte Hella längst genug. Trotzdem zögerte sie noch immer das Angebot anzunehmen.
„Nelli hat in ihrem Leben keine Sekunde an Urlaub gedacht“, überlegte sie laut. „Und ich soll mich nach einem halben Jahr für eine Woche aus dem Staub machen? Und was ist mit dem Umbau?“ Der ehemalige Kälberstall war für Behandlungs- und Büroräume der Klinik vorgesehen. In zwei, drei Wochen sollten die Arbeiten beginnen, und die Planung war längst nicht abgeschlossen.
Jette ließ den Einwand nicht gelten. „Wozu hast du dieses tüchtige Architektenpaar engagiert? Überlass ihnen die Planung. Der Hof kommt ein paar Tage gut ohne dich aus.“ Sie griff nach dem Wasserglas, zögerte einen Augenblick und stellte das Glas wieder ab, ohne zu trinken. „Der Grund, warum du nicht fahren willst, ist ein anderer.“
„Und der wäre?“, fragte Hella wachsam.
Jette stellte ihre Vorliebe, das Innenleben anderer zu analysieren, bei einem gemütlichen Plausch gern unter Beweis. Meistens ging es um die Pferdebesitzer, die Hella das Leben mit ihren mehr oder weniger bezaubernden Marotten und drängenden Wünschen schwer machen konnten. Nun war Hella selbst in Jettes Fokus gerückt.
Jette
Weitere Kostenlose Bücher