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DIE ASSASSINE

DIE ASSASSINE

Titel: DIE ASSASSINE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joshua Palmatier
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D ER P ALAST
    V or über tausend Jahren fegte ein gewaltiges Feuer durch die Stadt Amenkor. Es war kein Feuer wie jene roten und orangefarbenen Flammen, die in den ölgefüllten Standschalen entlang der Promenade zum Palast flackerten, vom Wind angefacht, der vom Meer heraufzog. Nein, dieses Feuer war weiß und rein und kalt. Den Legenden zufolge brannte es von Horizont zu Horizont und loderte bis zu den Wolken empor. Wie ein Sturmwind jagte es aus dem Westen heran, und als es über die Stadt hereinbrach, raste es durch die Mauern und Gebäude hindurch, ließ sie aber ebenso unversehrt wie die Menschen, durch deren Körper es toste, ohne sie zu verbrennen. Das Feuer überzog die ganze Stadt. Es gab kein Entrinnen; jeder wurde von den Flammen berührt. Und weiter jagte das Feuer, hinein ins Landesinnere, bis es nur noch ein weißer Schimmer am fernen Horizont war und schließlich ganz verblich.
    Es heißt, das Weiße Feuer habe die Stadt in den Wahnsinn gestürzt. Es heißt, das Feuer sei ein Omen gewesen, ein Vorbote der elfjährigen Dürre und Hungersnot und Krankheit, die darauf folgten.
    Es heißt, das Feuer habe die damals herrschende Regentin getötet, obwohl man ihren Leib unversehrt auf den breiten Steinstufen fand, die am Ende der Promenade hinauf zum Palast führten. Um den Hals der Regentin prangten Blutergüsse, welche die Form von Händen besaßen, während sich auf ihrem nackten Rücken und den entblößten Brüsten Wundmale zeigten, die die Form von Stiefelsohlen aufwiesen. Am ganzen Körper hatte sie Blutergüsse, sogar unter den weißen Gewändern, die in Fetzen um ihren unnatürlich verdrehten Körper hingen und nur noch von ihrer goldenen Schärpe gehalten wurden. Auch Blut war zu sehen, wenn auch nur Spritzer.
    Den Legenden zufolge hatte das Feuer die Regentin getötet.
    Das Feuer, pah!
    Verborgen in einer hoch gelegenen Nische in einem schmalen Gang im Palastinnern schnaubte ich verächtlich, ehe ich mein Gewicht verlagerte, um einen verkrampften Muskel zu entlasten, wobei mein Körper im Dunkel verborgen blieb. Die Nische befand sich am Ende eines langen Schachts, der für eine ständige Zufuhr frischer Luft ins Innere des Palasts sorgte.
    Jeder Blinde hätte erkennen können, was der Regentin tatsächlich widerfahren war. Und der Mistkerl, der sie umgebracht hatte, sollte im tiefsten Höllenloch Amenkors verrotten! Man kann einen Menschen schneller und weniger qualvoll töten als durch Erdrosseln. In diesen Dingen kannte ich mich aus.
    Langsam holte ich Luft und lauschte. Alles war still außer dem leisen Zischen der Ölflammen, die den verwaisten Gang erhellten. Der Luftzug im Palast wehte in Böen durch die Öffnung in meinem Rücken. Ein Sturm braute sich zusammen. Aber der Wind hatte auch sein Gutes, denn er trieb den Rauch des brennenden Öls und andere Gerüche fort.
    Nach einem langen Augenblick des Abwägens glitt ich zum Rand der Nische vor und spähte den Gang in beide Richtungen entlang. Nichts.
    Mit einer fließenden Bewegung ließ ich mich über die Kante der Öffnung gleiten, baumelte einen Lidschlag lang über dem Boden, bis ich mich eingependelt hatte. Dann ließ ich mich fallen.
    »Du da, Junge! Komm her und hilf mir.«
    Ich wirbelte herum. Meine Hand zuckte zum Dolch, der unter meiner Kleidung verborgen war – Pagenkleider, die man mir in der Nacht zuvor zur Verfügung gestellt hatte und die ein wenig zu groß und zu weit für mich waren. Dennoch erfüllten sie anscheinend ihren Zweck. Ich war klein für mein Alter und besaß keinen nennenswerten Busen; trotzdem würde mich niemand bei näherer Betrachtung für einen Jungen halten.
    Die Frau, die mich angesprochen hatte, trug das weiße Gewand einer Leibdienerin der Regentin, dazu zwei Flechtkörbe, einen in jedem Arm. Einer der Körbe drohte ihrem Griff zu entgleiten. Es war der Frau gelungen, den einen Korb mit dem anderen aufzufangen, ehe er fallen konnte, doch nun lehnten beide Körbe wackelig an ihrer Brust und würden bei der geringsten Bewegung kippen.
    »Worauf wartest du?« Gereizt und wütend verzog die Frau das Gesicht, doch ihr Blick verharrte auf den Körben.
    Ich richtete mich aus der geduckten Haltung auf, die ich unwillkürlich eingenommen hatte, und setzte mich in Bewegung, um den Korb zu ergreifen, bevor er kippte. Er war schwerer, als er aussah.
    Als ich den Korb an mich nahm, strich meine Hand über die Haut der Frau, worauf ein scharfer, brennender Schmerz meinen Arm entlangraste, als hätte jemand vom

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