Flammenpferd
mussten versorgt und betreut werden. Sie hatte Pläne für die Reha-Klinik, und auch ihr Wiesbadener Büro hatte sie nicht aufgegeben. Die Gelegenheiten, unbequeme Gedanken in Arbeit zu ersticken, waren allgegenwärtig und hielten sie auch davon ab, sich bei Simon zu melden. Tagsüber fühlte sie sich hin und wieder vor einer nebelhaften Sehnsucht nach seiner Stimme und seiner ruhigen Sicht der Dinge bedrängt. Doch der Wunsch verflog wieder und sie sprachen immer seltener miteinander. Von Liebe war keine Rede mehr. Ihr Entschluss nach Hameln zu ziehen, war der Anfang vom Ende gewesen. Das Traurigste an der verlorenen Liebe war die Erkenntnis, dass es nicht wirklich schmerzte.
Und nun sollte sie dem Hof für eine Woche entfliehen? Die zarte Vorfreude hatte sich wieder eingestellt, als Hella am Abend zuvor ihr Gepäck zusammen gesucht und auf der Kommode bereit gelegt hatte. Nur die passende Reiselektüre fehlte ihr noch. Am nächsten Morgen sollte es sehr früh losgehen. Für diesen Abend war sie mit Maren und Jette verabredet, um die Arbeitsabläufe zu besprechen. Zwar kannte sich Maren, die bereits für Nelli gearbeitet hatte, mit allen Aufgaben aus, aber sie scheute sich vor jeder höheren Verantwortung und überließ Jette liebend gern das Kommando.
Es gab noch eine Menge zu erledigen, unter anderem einige Telefongespräche mit Wiesbadener Kunden. Sie musste auch noch die Architekten von ihrer Abwesenheit in Kenntnis setzen. Trotzdem nahm Hella sich eine Stunde Zeit für ihre junge Stute. Auf dem gefrorenen Boden wäre nichts anderes möglich als ein zügiger Schritt, aber sie wollte Melody lieber einen ruhigen Ausritt gönnen, statt mit ihr wie so oft in den vergangenen Tagen in der Reithalle zu arbeiten.
Melody stand mitten im Auslauf und döste im Stehen mit langem Hals. Als sie Hellas Stimme hörte, hob sie den Kopf. Der gezackte weiße Stern und die schmale Schnippe auf der Nase zeichneten sich scharf vom dunkelbraunen Fell ab. Mit gespitzten Ohren kam sie eifrig näher. Anders als die Wallache, die sich die Zeit mit ruppigen Raufereien vertrieben und muntere Wettrennen quer durch den Auslauf vollführten, stand Melody wie so viele Stuten – ihrem lebhaften Temperament unter dem Sattel zum Trotz – die meiste Zeit gelangweilt herum. Von ihrer Reiterin erwartete sie ein ansprechendes Unterhaltungsprogramm. Hella war dankbar, dass Jette sich auch um Melody kümmern wollte, und wusste das Pferd in den besten Händen. Jette war eine erfahrene und umsichtige Reiterin.
Hella führte die Stute um den ehemaligen Kälberstall herum und zum überdachten Putzplatz vorn auf dem Hof. Dort strich sie kurz mit der Bürste über das blanke Fell. Mit ruhigen Handgriffen, wie es ihre Gewohnheit war, hatte sie rasch gesattelt und ritt durch das Hoftor. Melody schritt zielstrebig voran. Sie kannte den Weg, der ein Stück die Straße hinauf und unter der Eisenbahnbrücke hindurch zur bewaldeten Kuppe des Schwei nebergs hinüber führte. Als sie einen Feldweg erreichten, wollte die Stute wie üblich antraben und tänzelte ungeduldig, als Hella sie zurück hielt. Hier zwischen den kahlen Ackerflächen war der ungeschützte Boden von glitzerndem Raureif überzogen und erschien Hella für ein höheres Tempo zu rutschig. Melody fügte sich und strebte im zügigen Schritt voran. Hella ritt bis zum Waldrand, lenkte die Stute in einem Bogen zwischen den Buchen hindurch und schlug wieder den Weg ein, auf dem sie gekommen waren. Am langen Zügel marschierte Melody weiter, und Hella genoss den weiten Blick in das Hameltal. Die Bahnlinie und das nebenan verlaufende breite Straßenband trennten das Flusstal von den Äckern und Feldern auf dem sanft aufschwingenden Hang des Schweinebergs. Gesäumt von einzelnen mächtigen Weidenbäumen, niedrigen Hecken und der Reihe der hoch aufstrebenden Pappeln, die sich hinter dem Reinckehof erhoben, schlängelte sich der schmale Fluss durch das gelblich blasse Weideland. Zu Hellas rechter Seite lag die Stadt. Die Konturen verschwammen im winterlichen Grau. Deutlich erkennbar waren nur die Wohnhäuser des Stadtrands, der sich im Lauf der Jahre immer dichter an den Reinckehof heran geschoben hatte. Ein Bussard, der bis zum letzten Moment auf einem Zaunpfahl ausharrte, bevor er sich lautlos in die Luft erhob, verleitete die junge Stute zu einem Sprung zur Seite. Das blieb unterwegs der einzige Zwischenfall, und sie erreichten die Hauptstraße ebenso gelassen und zufrieden, wie sie los gezogen
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