Flaschendrehen: Roman (German Edition)
gefahren?«, rief Sarah aus der Küche.
»Heute Morgen. Sie wollten den Sonntag nutzen, um sich zum Trommeln zu treffen. Sie lassen dich übrigens grüßen und haben angedroht, bald wieder vorbeizukommen, von Dehling ist es ja nicht so weit nach Berlin.«
»Sag mal, hat Ben sich schon gemeldet?«
Für einen kurzen Moment krampfte sich mein Magen zusammen.
»Nee, du kennst doch Ben. Der macht nie, was man von ihm erwartet. Der tut nur, wozu er Lust hat.«
Ben war ein gemeinsamer Freund, eigentlich Rudis bester Freund. Sie waren in einem Jahrgang gewesen, und ab der fünften Klasse hatte ich für ihn geschwärmt, später war ich phasenweise heftig in ihn verliebt gewesen, auch weil er immer so unnahbar und geheimnisvoll war. Das war er zwar immer noch, aber inzwischen hatte er eine ziemlich gut aussehende, wenn auch völlig hohle Freundin. Sie war um einiges jünger, Anfang zwanzig, und studierte im vierten Semester BWL . Sarah musste auch an sie gedacht haben, denn sie rief:
»Oder darf er dich nicht besuchen, weil sein Häschen Liv was dagegen hat? Es will mir einfach nicht in den Kopf, was jemand wie Ben, der wirklich was draufhat, mit diesem Einzeller macht!«
»Echo« wäre ein passender Spitzname, denn Liv, die vor Ben zur Meinungsbildung höchstens in der Vogue geblättert hatte, Kuck mal wer da spricht 2 als Lieblingsfilm angab und Blue als die prägende Band der letzten Jahre bezeichnete, sprach plötzlich über Adorno, hörte Tom Waits und ging nur noch in untertitelte Kinofilme.
»Die muss ’ne Granate im Bett sein, anders kann ich mir das nicht erklären!«, hörte ich Sarah dumpf weitersprechen, was daran lag, dass ihr Kopf gerade im Backofen steckte, dessen Ecken sie mal gründlich reinigen wollte.
»Selbst wenn. Wie erträgt er sie die restliche Zeit? Ich bekomme schon Kopfweh, wenn ich ihr einen Abend lang zuhören muss, und so gut kann jemand gar nicht aussehen, um das wettzumachen.«
Vor allem, wenn man ein so kluger Kopf wie Ben war, der als Berater von hochrangigen so genannten Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft Reden und Vorträge schrieb und einen Lehrauftrag für Philosophie an der Uni hatte.
»Bist du immer noch eifersüchtig, Gretchen? Ich sage nur: Abiball!«
Wenn es ein Ereignis gab, an das ich nicht erinnert werden wollte, dann an meinen peinlichen Auftritt beim Abiball. Angetrunken und im festen Glauben, nichts verlieren zu können, hatte ich Ben an seinem Abiball meine Liebe gestanden, nur um feststellen zu müssen, dass man immer etwas verlieren kann, und wenn es nur die Würde ist. Wir hatten am Rand der Tanzfläche gestanden, es lief Perfect Day von Lou Reed, was ich in meinem angetrunkenen Zustand als Wink des Schicksals gedeutet hatte. Tja, wenn ich geahnt hätte, dass dieses Lied Drogen und nicht der Liebe gewidmet ist, wäre ich vielleicht gewarnt gewesen.
Bis heute konnte ich mich an jedes Wort erinnern. Meinen ganzen Mut hatte ich zusammengenommen für diesen Satz: »Ben, ich muss dir was sagen … Ich bin in dich verliebt, und zwar, seit ich denken kann.«
Keine Ahnung, welche Reaktion ich erwartet hatte, aber die folgende garantiert nicht.
Er sah mich mit seinen dunklen, undurchsichtigen Augen an und antwortete einfach nur: »Ich weiß.«
Schweigen. Ich wartete auf »Ich auch in dich«, »Ich aber nicht in dich«, doch stattdessen küsste er mich auf die Stirn, murmelte, »Lass uns besser nichts ändern« und ging.
Rudi erzählte mir am nächsten Morgen, nach einer für mich endlosen schlaflosen Nacht, dass Ben sich so betrunken hatte wie noch nie und mit meiner Englischreferendarin öffentlich rumgeknutscht hatte, was im Übrigen einen ziemlichen Skandal auslöste.
Damit war das Thema vorerst erledigt gewesen. Wie sehr hatte ich gelitten! Ich konnte wochenlang kaum etwas essen, weinte mich Abend für Abend in den Schlaf und brachte Rudis und Bens Freundschaft beinahe auseinander, weil Rudi nicht mit ansehen konnte, wie seine kleine Schwester wegen eines Typen so leiden musste, der ausgerechnet auch noch sein bester Freund war. Ich glaube, er fühlte sich verantwortlich. Natürlich hatte ich danach immer wieder einen Freund gehabt, was mich aber nie davon abgehalten hatte, weiterhin in Ben verliebt zu sein. Wenn ich ehrlich war, scheiterten meine Beziehungen letztlich immer daran, dass ich alle anderen Jungs mit Ben verglich. Das Schlimmste an der Sache beim Abiball war, dass ich mir so sicher gewesen war, dass Ben meine Gefühle erwiderte. Die Art,
Weitere Kostenlose Bücher