Flaschendrehen: Roman (German Edition)
halbmast. Wenn er nur ein wenig Erfahrung mit Tablettenabhängigen hatte, würde ein Blick in mein Gesicht genügen.
Clemens stand mit dem Rücken zu mir am Fenster und schien etwas Interessantes auf der Straße zu beobachten. Schön, hoffentlich blieb er so stehen. Was ich von ihm sehen konnte, war viel versprechend. Groß gewachsen, leicht welliges, braunes Haar, seine Klamotten eine Mischung aus englischem Landgrafen- und Berliner Chic, ein wohlhabender Intellektueller dem Anschein nach. Von hinten würde ich ihn auf Ende dreißig schätzen.
Ohne seinen Blick vom Fenster abzuwenden, fragte er mich unverhofft: »Wann warst du zum ersten Mal im Kino, und woran erinnerst du dich, Gretchen?«
Seine Stimme klang angenehm dunkel, auch wenn ich es befremdlich fand, dass er noch immer keine Anstalten machte, sich umzudrehen, und mit dieser Frage das Gespräch eröffnete. An das Duzen in der Branche hatte ich mich gewöhnt. Nicht, dass ich etwas dagegen hatte, im Gegenteil, ich zuckte trotz meiner dreiunddreißig Jahre zusammen, wenn mich jemand Frau Fingerhut nannte, und sah mich spontan um, ob nicht zufällig meine Mutter in der Nähe war. Aber dass man auch Chefs, gleichgültig wie alt und in welcher Position, duzen durfte, fand ich immer noch bemerkenswert. Ich konzentrierte mich, um meine Zunge unter Kontrolle zu halten, und beantwortete seine Frage.
»Mein erster Film war E. T. Meine Großeltern hatten, gegen den Protest meiner Eltern, meinen Bruder und mich mit ins Kino genommen. Ich war kaum schwer genug, um den Klappsessel unten zu halten, aber allein, dass es Popcorn und Cola gab, war schon super, weil das Teufelszeug zu Hause strikt verboten war. Ich kann mich nicht mehr an jede Szene erinnern, auf alle Fälle war ich fasziniert von diesem Film, wollte so aussehen wie Drew Barrymore und konnte wochenlang von nichts anderem sprechen und träumen – sehr zum Leidwesen meiner Eltern, die höchstens Michel aus Lönneberga als adäquaten Film für Kinder durchgehen ließen.«
Mann, was erzählte ich da? Meine Familiengeschichte interessierte ihn wohl kaum. Aber wieso fragte er mich nicht einfach, wie ich gedachte, meinen Job zu machen? Und wieso war es hier so warm?
»Welchen Oscar-ausgezeichneten Film hältst du für komplett überbewertet und warum?«
Hä? Was wurde das denn? Na gut, er ist der Chef, also antwortete ich lieber mal.
»Chicago. Wer behauptet, Richard Gere könne singen, lügt. Und diese Pseudo-Beweihräucherung Hollywoods fand ich einfach lächerlich und nicht gelungen.«
Ob er meine Antworten gut fand, konnte ich nicht erkennen, er kommentierte sie nicht – und daran, sich umzudrehen, dachte er immer noch nicht. Wer weiß, vielleicht hatte er auch seine Tage und gleich vier fiese Pickel mitten auf der Nase.
»Wann hast du das letzte Mal im Kino geweint?«
Kam jetzt die Psychotour, auf die ich schlau reagieren musste? Aber wie? »Ich weine nie«, lag mir auf der Zunge, aber nee, mit dieser Antwort würde ich womöglich als Serienmörderin eingestuft.
Obwohl ich es seltsam fand, dass Clemens mich nicht ansah, während er mit mir sprach, hatte ich das Gefühl, dass er mir genau zuhörte. Ich entschied mich, wahrheitsgetreu zu antworten.
»Geweint? Gute Frage, ich weine schon, wenn mir eine Grünpflanze eingeht, nur mal so als Maßstab. Also generell weine ich sehr inflationär, aber das letzte Mal so richtig geweint habe ich bei Sturm .«
Er drehte sich um, und nein, er hatte keine Pickel und auch keine Hasenscharte! Im Gegenteil. Ich blickte in ein Paar blitzende hellgraue Augen! Er sah viel zu gut aus, um einen Job zu haben, der Intellekt erforderte. Man stelle sich einen jungen Ulrich Wickert vor, allerdings mit dem Charme und der Leichtigkeit eines Hugh Grant! Das nannte ich Verschwendung und unfair den viel zu dünnen, blassen Jungs gegenüber, die allein mit Geist bei den Mädchen punkten müssen.
»Ich bin gleich wieder da!« Sprach’s und verließ das Büro.
Äh? Okay, vielleicht war ich noch nicht gut genug, was Gedankenlesen anging, vielleicht rief er auch nur bei der Betty Ford Klinik an, um mich auf Entzug zu schicken.
Wenigstens konnte ich mich jetzt in aller Ruhe in seinem Büro umsehen. An der Wand hinter seinem Schreibtisch hatte er ein Spruchband aufgehängt, auf dem stand: »Don’t let yourself get attached to anything you are not willing to walk out on in thirty seconds flat if you feel the heat around the corner.« In der deutschen Synchro war der legendäre
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