Altraterra. Band 1: Die Prophezeiung (German Edition)
Kapitel 1: Anne
Anne schritt einen langen Gang entlang, der durch Kerzenlicht nur matt erleuchtet war. Zu beiden Seiten standen ernst blickende Männer mit prachtvollen Kostümen und schimmernder olivfarbener Haut, die ihre Schwerter in die Luft reckten und so ein Spalier bildeten. Sobald Anne sie passierte, verneigten sich die Männer. Sie selbst trug ein kostbares weißes Gewand, das mit Seide abgesetzt und mit einer langen Schleppe versehen war. Ihre weißen Schuhe wirkten beinahe gläsern. Der Gang führte auf eine offene Tür zu. Sie ging hindurch und gelangte in einen hell erleuchteten Saal voller fremdartiger Menschen, die im Kreis um zwei Männer herum standen. Bei Annes Eintreten klatschten und raunten die Menschen und wichen zur Seite, sodass sie geradewegs auf die zwei Männer zuging. Einer von ihnen hatte sonnengegerbte Haut und halblanges, dunkles Haar. Seine sorgenvolle Miene konnte nicht verbergen, dass er sehr gut und feinsinnig aussah. Der Andere trug das lange Gewand eines Priesters – und doch sah er weit exotischer aus als der Dorfpfarrer, den Anne kannte. Anne und der fremde Mann wandten sich dem Priester zu, der sie segnete. Plötzlich aber zuckte ein greller Blitz durch den Saal. Die Menschen schrien auf, als alles in gleißend helles, rotes Licht getaucht wurde. Im nächsten Moment ertönte ein ohrenbetäubender Knall und …
„Kikerikiii!“ krähte der Hahn. Anne fuhr aus dem Schlaf hoch und setzte sich im Bett auf. Verwirrt schüttelte sie den Kopf. „Immer wieder dieser seltsame Traum! Was soll mir das denn sagen?“, wunderte sie sich laut. Gewiss, dachte sie, während sie sich aus den Steppdecken ihres einfachen Holzbettes schälte, es war nicht unüblich, dass sich ein Mädchen seine Hochzeit ausmalte. Ebenfalls nicht, dass diese im Traum prunkvoller ausfiel, als sie in ihrem bäuerlichen Leben je sein könnte. Aber musste sie denn schon im Traum wie eine riesenhafte Seifenblase zerplatzen?
Sie stieg aus dem Bett und lief die Treppe des zweistöckigen kleinen Hauses hinab zum Waschraum. Die Möbel waren hier, wie überall im Haus, selbst gezimmert. Während sie sich frisch machte und ihr schlaftrunkenes Gesicht im Spiegel betrachtete, ließ sie den Traum erneut an ihrem inneren Auge vorbei ziehen. Sie wusste genau, wie ihre Hochzeit in Wirklichkeit aussehen würde. Sie fände auf dem Hof ihres Vaters statt und dieser würde sie zum Traualtar führen. Sie würde einen Kranz aus gewundenen Blumen und ein einfaches Kleid tragen, das einst ihrer verstorbenen Mutter gehört hatte. Und ihr Zukünftiger würde einer der jungen Männer der umliegenden Höfe sein – damit ihr Vater, wenn er zu alt zum Arbeiten auf dem Feld war, seinen Hof dem neuen Schwiegersohn übergeben konnte.
Der Hahn krähte erneut und schreckte Anne abermals hoch. Sie hatte keine Zeit für solche Träume. In wenigen Augenblicken würde ihr Vater herunter kommen und sein Frühstück verlangen. Und sie stand hier untätig herum! Schnell schlüpfte sie in ihr kornblumenblaues Kleid, eilte in die Küche und trug Brot, Butter und Eier auf. Nein, eine üppige Hochzeit wie diese, mit Dienerschaft und Seidengewand, würde sie nie haben. Ihr Leben bestand daraus, ihrem Vater auf dem Hof zur Hand zu gehen, die Hühner zu füttern, die Kühe auf die Weide zu treiben und, soweit es ihr als Frau möglich war, ihren sechs Jahre älteren Bruder zu ersetzen. Henri hatte den Hof bereits in jungen Jahren verlassen, um an der Universität Scientia an einem weit entlegenen Ort die Künste und Wissenschaften zu studieren. Ihr Vater pflegte zu sagen, dass Henri bereits als Kind ein „außergewöhnliches Talent“ für dieses Studium gezeigt habe. Wie genau sich das bemerkbar gemacht hatte, wusste Anne nicht, aber ihr Vater war mächtig stolz auf seinen Sohn und hatte ihn trotz aller Nachteile für die eigene Zukunft gern fortgelassen.
Annes Vater betrat den Raum, als sie gerade Teewasser erhitzte. Sie war erst 13, doch der weißbärtige Mann ging bereits ein wenig gebückt. Die schwere Arbeit machte ihm zu schaffen und Anne sah voraus, dass ihre Hochzeit nicht mehr weit entfernt lag. Spätestens in zwei Jahren würde der Vater, der sich seinerseits erst im fortgeschrittenen Alter mit ihrer Mutter vermählt hatte, die Last nicht mehr allein tragen können. Wer aber sollte der Glückliche sein? An keinem der unverheirateten Männer von den umliegenden Höfen hatte sie besonderes Interesse. Die meisten waren wenig ansehnlich und
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