Fleisch und Blut: Der Kannibale (German Edition)
Wein einen Hauch bei. Oder etwa nicht?»
Aemisegger horchte auf. Langsam begann er sich für die Informationen der Detektivin zu interessieren. Sein Schamgefühl liess sich plötzlich besser verdrängen, als er gedacht hatte.
Carla Fuchs beobachtete sein frisch erwecktes Interesse mit einem Schmunzeln.
«Zivilisierte Europäer, wie Sie und ich, neigen dazu, Untertöne der eigenen Kultur, den Kannibalismus, zu verteufeln und den sogenannt Wilden zuzuschieben.»
«Für mich sind das keine Wilden, es sind Monster!» Aemisegger blieb hartnäckig.
«Diese Debatte um das Monster im Homo sapiens, um das Ragout vom Menschen, findet statt. Natürlich stellen wir uns die Frage, ob das Essen von Menschenfleisch zu unserer hoch entwickelten Gesellschaft gehört oder ein krankes Gehirn Voraussetzung dafür ist. Doch die Geschichte beweist, dass das Skrupellose zum Menschen gehört, ganz unabhängig von der Entwicklung und vom Kontinent.»
«Ich kann mir das trotzdem nicht vorstellen. Niemals würde ich mich am Fleisch eines Menschen vergreifen!»
«Wie gesagt, das geht mir gleich wie Ihnen, Aemisegger. Den meisten Menschen geht es so. Mich interessiert gerade das Andere; das, was für mich unvorstellbar ist, ist für einen anderen die Realität. Oder würden wir sonst Verbrecher jagen?»
Er verstand, was ihm die Detektivin sagen wollte und musste ihr beipflichten.
«Man hat von einem deutschen Pharmakologen mit Namen Johann Schröder Schriftstücke aus dem 17. Jahrhundert gefunden. In einer überlieferten Anleitung ging es um einen Mann, der, nachdem er gehängt oder geköpft worden war, einen Tag und eine Nacht bei heiterem Wetter in Sonne und Mond liegen bleiben sollte, um dann für medizinische Zwecke weiter verarbeitet zu werden. Es gab noch mehr derartiger Rezepturen und es ist auch nicht allzu lange her, als Leichenteile, Blut oder Hirnpulver vom Menschen in jeder Apotheke erhältlich waren. Unsere direkten Vorfahren, die Europäer, waren übrigens eifrige Kannibalen, Herr Aemisegger»
«Unglaublich was Sie mir da erzählen!»
«Ja, wie gesagt, Teile vom Menschen wurden sogar als Arzneimittel angepriesen. Die Totenmedizin war in der Renaissance sogar bedeutungsvoll. Die Römer sollen Gladiatorenblut gegen Epilepsie getrunken haben. Und ich habe gelesen, dass Pulver von geschredderten ägyptischen Mumien als Elixier des Lebens verkauft wurde. Später dann, im 17. Jahrhundert, machten sich die Heiler hinter die Überreste von Hingerichteten oder Bettlern. Man bediente sich am Fleisch der Randständigen und verhökerte es auch. Damit liess sich viel Geld erwirtschaften. Eine bekannte Erzählung aus der Geschichte ist, dass der britische König Karl II. sogar 6000 Pfund für ein Rezept zur Verflüssigung menschlichen Hirns zahlte. Die daraus gewonnene Flüssigkeit soll als Des Königs Tropfen in die Medizingeschichte eingegangen sein.»
«Wie bitte? Das sind bestimmt nur Märchen.»
«Sie können sich gerne bei Dr. Kägi erkundigen. Er kann Ihnen dazu sicherlich noch ein paar Anekdoten erzählen. So soll es gewesen sein, für uns unfassbar, ich weiss schon. Menschenfett zum Beispiel sollte Rheuma und Arthritis lindern, Leichenpaste gegen Quetschungen helfen oder menschliches Herz bei Schwindel. Zudem wurde dem Essen von menschlichem Fleisch auch religiöse Bedeutung zugeschrieben.»
«Offenbar isst jeder Menschenfleisch. Nur wir beide nicht», hörte die Detektivin Aemisegger in inzwischen gewohntem Sarkasmus sagen.
«Ich habe mal gehört, dass die Mönche aus dem Blut Verstorbener Marmelade gekocht haben. Sie schworen auf den Organismus mit innewohnender Lebenskraft. Die Vorliebe für Exekutierte war ebenfalls auf diese Vorstellung von Lebenskraft zurückzuführen. Man sagte, wenn ein Mensch auf unnatürliche Weise starb, könne mit dem Einverleiben seiner Körperteile der Rest seiner Lebenszeit geerntet werden. Genauso verhält sich unser Täter. Er holt sich seine Leibesspeise nicht aus Gräbern, er tötet seine Opfer.»
«Es geht um diese Lebenskraft. Soviel habe ich verstanden.»
Carla Fuchs war müde. Die tiefe Auseinandersetzung mit diesem Thema war kein Leichtes – auch für sie nicht.
«Lassen Sie mich darüber schlafen. Aber ich glaube, wir sind unserem Täter näher, als wir es je waren. Ich rufe Sie morgen an. Aber erst muss ich mit Felix Tägli telefonieren. Ich kann es nicht glauben, dass wir keinen Hinweis darauf haben, woran der Journalist gearbeitet hat. Wir
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