Fleisch
aufstehen konnte. Oh Gott, das hat nichts Gutes zu bedeuten! Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zum letzten Mal wacklige Knie gehabt hatte. War es das, worum es in einer Partnerschaft ging: Sorge, Stress, Angst? Warum hatte sie nur geglaubt, sie würde etwas vermissen? Allein war es ihr doch eigentlich ziemlich gut gegangen. Ziemlich gut .
Nein, das stimmte nicht. Du warst einsam, sagte sie sich.
Sie zwängte sich durch die Schlange vor der Aufnahme. Sie wappnete sich, so wie sie es tat, wenn sie einen Tatort betrat. Aber wem sollte sie etwas vormachen? Dies hier war anders, ganz anders.
Die Erleichterung in Rachels Gesicht, als sie sie endlich sah, ließ Julia allen Mut verlieren. Sie erhoffte sich Stärke von ihr. Diese Erwartung, die Verpflichtung lastete wie Blei auf Julias Schultern. Sie konnte das nicht. Hatte es nicht in sich. Sie ertappte sich dabei, dass ihre Finger nach ihrem Holster und der Waffe suchten. Und auf einmal fühlte sie sich vollkommen hilflos.
Rachel griff nach ihren Händen.
„Sie kriegt eine Infusion. Sie ist völlig dehydriert.“ Ihre Unterlippe zitterte. Aber da war noch mehr. „Sie sagen, es sind noch weitere Kinder von der Schule betroffen. Aber sie wollen mir nicht erzählen, was da eigentlich los ist.“ Sie warf einen Blick nach hinten, um sicherzugehen, dass Cari Anne sie nicht hören konnte. Beinahe im Flüsterton sagte sie: „Es ist schlimm. Ich glaube, es ist richtig schlimm.“
Sie kam ganz auf den Flur heraus und lehnte sich gegen die Wand. Sie hielt immer noch Julias Hände, so fest, dass es wehtat.
„Ich kann sie nicht verlieren“, sagte Rachel.
„Das wird auch nicht geschehen.“
„Ich kann es einfach nicht.“
In der Vergangenheit hatte Julia es immer zugelassen, dass sie durch eine Hintertür entkam. Sie hatte sie beinahe sofort eingebaut, sobald sie sich auf eine Beziehung einließ. Das war – und davon war sie fest überzeugt – eine schlaue Überlebensstrategie. Sie ließ sich nie so tief ein, dass sie nicht wieder auftauchen konnte. Sie war Houdini, kümmerte sich um sich selbst, denn wenn sie es nicht tat, wer dann?
„Geh wieder rein zu Cari Anne“, sagte sie zu Rachel.
„Ich habe Angst. Bitte komm mit!“
Julia zuckte zusammen. So fühlte es sich also an, wenn einem das Herz zerrissen wurde.
„Ich komme gleich“, erwiderte sie. „Ich muss erst noch etwas erledigen.“
Sie war selbst überrascht, wie überzeugend sich das angehört hatte. Rachel nickte und fuhr sich übers Gesicht. Sie holte tief Luft, drückte noch einmal Julias Hände und ging wieder zu ihrer Tochter.
Nun war Julia an der Reihe, sich gegen die Wand zu lehnen. Sie schnappte nach desinfizierter Luft. Dann zog sie ihr Handy hervor und registrierte voller Abscheu, dass ihre Finger so zitterten, dass sie kaum die richtigen Tasten traf.
Sie ließ es endlos klingeln und schwebte in einem Zustand zwischen Zorn, Frust und regelrechter Angst. Er würde ihre Nummer nicht erkennen. Bitte nicht die Mailbox! Sie wüsste nicht, was sie sagen sollte, und sie würde es auch nicht fertigbringen, ihn noch einmal anzurufen.
„Benjamin Platt.“
„Sie müssen mir einen Gefallen tun“, sagte sie und vergaß sogar, ihren Namen zu nennen.
67. KAPITEL
Nebraska
Als Maggie endlich den Kabelbinder durchschneiden konnte, löste er sich nicht sofort von ihren Handgelenken. Sie musste den Plastikstreifen aus der Kerbe ziehen, wo die Fessel tief in ihr Fleisch eingeschnitten hatte. Das Blut war mittlerweile geronnen, und so saß er fest unter ihrer Haut. Unter einem der stählernen Werktische fand sie eine Flasche mit Alkohol. Sie öffnete sie, hielt die Luft an und goss sich die Flüssigkeit über die Wunden an ihrem einen Handgelenk. Sie kniff die Augen zusammen. Sie griff nach der Tischplatte und biss sich beinahe die Lippe blutig, um ihren Schrei zu unterdrücken.
Nicht ohnmächtig werden! Du darfst nicht ohnmächtig werden!
Beim zweiten Handgelenk ging es leichter. Jetzt, da sie nicht mehr gefesselt war, würde alles leichter gehen.
Sie hatte nicht das Licht anmachen müssen, nachdem sie das Gebäude betreten hatte. Durch das Schimmern in mehreren großen Behältern, die im Raum verteilt waren, konnte sie genug erkennen. Ziemlich bald hatte sie eine Gartenschere entdeckt. Sie hatte mehrere Versuche gebraucht, bis sie die Plastikfessel endlich durchtrennt hatte.
Nun steckte sie sich die Schere in die Hosentasche und machte sich auf die Suche nach einer besseren
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