Fliedernächte: Roman (German Edition)
Hope. Und in dem Moment war ihm, als sähe er das ganze Bild. Sie war es, die fehlte.
»Ryder?« Sie trat durch die Tür und zog leicht fröstelnd den kurzen Morgenrock um sich.
»Nichts. Ich konnte bloß nicht mehr schlafen.«
»Es ist selbst für dich noch ziemlich früh.« Sie trat neben ihn und legte ihre Hände neben seine auf das schmiedeeiserne Balkongeländer. »Wie still es ist. Die Ruhe und die Dunkelheit auf dem Land sind wunderbar. Tagsüber ist man meistens so beschäftigt, dass man gar nicht daran denkt und beinahe vergisst, wie still es sein kann.«
Er blickte sie lächelnd an, weil ihm eben erst fast dasselbe durch den Kopf gegangen war.
Sie erwiderte sein Lächeln, und der Anblick ihres leicht verschlafenen Gesichts rief neuerlich glühendes Verlangen in ihm wach.
»Ich könnte uns einen Kaffee kochen, und wir setzen uns mit unseren Tassen auf den Balkon und beobachten den Sonnenaufgang«, schlug sie vor.
»Ich hab eine bessere Idee, wenn du nicht unbedingt weiterschlafen willst.«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, nahm er ihre Hand und zog sie in Richtung Treppe. In sein Bett nämlich wollte er unter keinen Umständen zurück nach diesem Albtraum.
»Ry, was hast du vor, splitternackt, wie du bist?«
»Stimmt.« Rasch zog er ihr den Morgenmantel aus und warf ihn achtlos über einen Stuhl. »Jetzt bist du das ebenfalls.«
Trotz ihrer Proteste zog er sie in den Hof.
»Auf dem Land ist es um diese Uhrzeit nicht nur still und dunkel, sondern auch vollkommen einsam. Weswegen sorgst du dich? Es ist niemand in der Nähe. Außer mir und D.B., und wir beide haben dich schon öfter nackt gesehen.«
»Ich lauf ganz bestimmt nicht durch die Gegend, ohne mir vorher etwas anzuziehen.«
»Ich hatte nicht vor, großartig herumzulaufen.« Und noch während er das sagte, drückte er sie auf das kühle, taubenetzte Gras.
»Oh, das ist natürlich etwas völlig anderes, als ohne Kleider durch die Gegend zu laufen. Wir könnten …«
Bevor sie ihren Satz beenden konnte, verschloss er ihren Mund mit seinen Lippen und küsste sie sanft.
»Ich will dich spüren, während die Sonne aufgeht. Will dich sehen und in dir sein, wenn der Tag beginnt«, flüsterte er an ihrem Mund.
Er verführte sie mit Worten, die ihr Herz berührten, und erregte sie gleichzeitig nach allen Regeln der Kunst, sodass sie ihre Bedenken bald vergaß.
Glücklich, weil er sie derart begehrte, und dankbar, weil sie selbst so intensive Gefühle für ihn hatte, gab sie sich hin. Vorbehaltlos und kompromisslos. Während die letzten Sterne wie die Flammen erlöschender Kerzen flackerten, der Mond hinter den schattigen Erhebungen des hügeligen Landes versank und das erste Gold der Morgenröte auf die nächtlich dunklen Felder fiel, öffnete sie sich ihm auf dem taubenetzten Gras.
Er nahm, was sie ihm bot, und gab sich ihr selbst schrankenlos hin. Mit ihr endete die Nacht und begann der Tag. Sie ließ den Traum von Tod und Verzweiflung verblassen. Und das letzte Teil des Puzzles zu seinem Glück fand den ihm zugedachten Platz.
Sie war seine Hoffnung, Hope. Und sie war rundherum perfekt.
Als er spürte, wie sie kam, fingen die Vögel zu zwitschern an. Und der Himmel erstrahlte im Glanz des anbrechenden Tages.
Am nächsten Morgen traf sich die Familie wie vereinbart im Hotel. Hope hatte ihren Wagen vor Justines Haus abgeholt und vor der Ankunft der anderen mit den täglichen Routinearbeiten begonnen. Am Nachmittag wurden neue Gäste erwartet.
Sie musste sich bemühen, nicht laut auszusprechen, was ihr durch den Kopf ging. Schließlich wollte sie Lizzy vorzeitig nichts verraten. Heute schien die Zeit besonders langsam zu verstreichen.
Hope brannte darauf, ihr die Neuigkeiten mitzuteilen. Endlich konnten sie ihr sagen, was mit Billy geschehen war.
Was aber passierte mit Lizzy selbst, wenn das Warten ein Ende hatte?
Diese Frage beschäftigte Hope ebenso wie Ryders seltsames Verhalten letzte Nacht. Sein Blick, als sie nachts zu ihm auf den Balkon getreten war. Was hatte er zu bedeuten? Überhaupt war er, seit sie an Billys Grab gestanden hatten, erheblich schweigsamer als sonst.
Auch als er mit ihr schlief, war er anders: ruhiger und irgendwie eindringlicher. Dabei hätten sie eigentlich über die merkwürdige Szenerie lachen sollen. Zwei erwachsene Menschen, die sich im nassen Gras liebten, und neben ihnen ein Vierbeiner, der aufmerksam zuzuschauen schien. Nur hätten Scherze und Spott nicht gepasst – alles war so ungewöhnlich intensiv,
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