Fliedernächte: Roman (German Edition)
gegenüber hatte er einen Schwur geleistet, und deshalb weigerte er sich zu akzeptieren, sie nie wieder berühren oder wenigstens ein letztes Mal sehen zu können.
Während das Blut weiter aus seinen Wunden rann, hauchte er mit seinem letzten Atemzug den Namen seiner Liebsten.
Und bildete sich ein zu hören, wie sie nach ihm rief. Glaubte ihr schweißbedecktes, kreidebleiches Gesicht zu sehen, in dem die Augen fiebrig glänzten, während sie immer wieder seinen Namen murmelte.
Joseph William Ryder – Billy für die Menschen, die ihn liebten – starb am Rand des Hohlwegs, der auch hundertfünfzig Jahre später noch der Blutweg hieß.
Frierend, mit trockenem Hals und wild klopfendem Herzen wachte Ryder auf. Neben seinem Bett hockte D.B., stupste die Hand seines Herrchens mit der Schnauze an und stieß ein nervöses Wimmern aus.
»Schon gut«, murmelte er. »Ich bin okay.«
Doch in Wahrheit hätte er nicht sagen können, ob er das wirklich war.
Okay, alle Menschen hatten hin und wieder Träume. Gute, schlechte, seltsame, beängstigende und schwüle.
Und nachdem sie gerade Billy Ryders Grab gefunden hatten und er vor dem Einschlafen unentwegt an den jungen Soldaten denken musste, war es sicher gar nicht mal so seltsam, wenn er im Traum erlebte, wie Billy starb. Und zwar nicht irgendwo, sondern in seiner Heimat. Dafür sprach sein Todesdatum, der 17. September 1862. Es war der Tag der Schlacht am Antietam gewesen, die als die blutigste des ganzen Bürgerkriegs galt.
Alles logisch zu erklären, redete er sich ein. Mach dich also nicht zum Narren.
Und doch wurde er das seltsame Gefühl nicht los, das ihn an Billys Grab beschlichen hatte. Irgendetwas stimmte nicht, ohne dass er es zu benennen wusste.
Er warf einen Blick auf seinen Wecker und stieß einen Seufzer aus. Kurz vor fünf. Trotzdem war an Schlaf nicht mehr zu denken, nicht nach so einem bizarren Traum.
Die Bilder waren so anschaulich gewesen, so plastisch und zudem so konkret. All das zusammen machte ihn ganz schön nervös. Immerhin hatte er den Eindruck gehabt, selbst auf dem Schlachtfeld zu stehen und über den Blutweg zu laufen. Das Grauen am eigenen Leib zu spüren.
So etwas musste ein vernunftorientierter Mensch wie er erst einmal wegstecken.
Natürlich hatte er Bücher über Antietam gelesen, in der Schule von der Schlacht gehört und die Gedenkstätte des Öfteren mit Freunden und Verwandten von außerhalb besucht. Trotzdem waren ihm die Ereignisse nie zuvor mit solcher Unmittelbarkeit erschienen, als sei er dabei gewesen, und hatten ihn nicht bis in seine Träume verfolgt.
Die Gerüche, die Geräusche. Warmes Blut, beißender Rauch, verbranntes Fleisch, das Donnern des Artilleriefeuers, das die Schreie der Sterbenden verschluckte.
Und all das hatte er stellvertretend in seinem Traum erlebt. Die Kämpfe und die Zweifel ebenso wie die Verzweiflung, die Ängste, das Sterben ringsum und am Ende den eigenen Tod.
Wie Billy Ryder.
Ach, vergiss es, mahnte er sich.
Neben ihm lag Hope, und als sie sich leicht bewegte, schwemmte ihre Wärme einen Teil der Kälte in seinem Inneren hinweg. Er überlegte, ob er sich nicht einfach auf sie rollen sollte, um bei ihr und in ihr Vergessen zu finden.
Doch er verzichtete darauf – aus Rücksicht auf sie und weil er mit sich selbst klarkommen wollte. Vorsichtig stand er auf, öffnete die Balkontür und trat ins Freie.
Vielleicht brauchte er ja einfach etwas frische Luft.
Er mochte die nächtliche Stille und das Licht der Mondsichel, das durch die Bäume schien, stand einfach da und sog den Frieden der Umgebung in sich auf.
Momente wie dieser wogen all die Anstrengung, den Stress und Frust der Arbeit auf. Momente vollkommener Stille, kurz bevor die Nacht vorbei war und ein junger Tag begann. Bald würde die Sonne den Himmel im Osten rötlich färben, das Gezwitscher der Vögel einsetzen und der ganze Kreislauf des Lebens aufs Neue beginnen.
Geistesabwesend strich er D.B., der ihm auch jetzt wie ein Schatten gefolgt war, über den Kopf und dachte nach. Eigentlich hatte er alles, was er sich nur wünschen konnte. Einen guten Job, ein tolles Haus und eine Familie, die ihm wichtig war und die ihn liebte und ihm Rückhalt bot.
Mehr konnte ein Mensch schließlich nicht verlangen, oder?
Weshalb hatte er dann trotzdem das Gefühl, als sei sein Leben nicht wirklich komplett? Welches Puzzleteil fehlte, um das Bild zu vollenden und sein Glück perfekt zu machen?
»Was ist los?«
Er drehte sich um und sah
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