Fliehe weit und schnell
das Gesicht, »so war halt das Jahrhundert. Das wurde von einem verlangt.«
»Das Jahrhundert, leck mich doch. Du warst es, der es so wollte. Du hast ihr ein Auge eingeschlagen.«
»Sag mal, wir werden doch nicht noch zwei Jahrhunderte über das Auge reden?«
»Doch. Ist ein gutes Beispiel.«
»Ausgerechnet du kommst mir mit Beispielen, Joss? Der Joss, der auf den Kais von Le Guilvinec einen Mann fast zu Tode getreten hat? Oder irre ich mich?«
»Erstens war das keine Frau und zweitens nicht mal ein Mann. Es war ein Geldsack, dem es scheißegal war, ob die anderen verreckten, Hauptsache, seine Kasse stimmte.«
»Jaja, ich weiß. Du hattest nicht unrecht. Das ist aber nicht der einzige Grund, warum du mich herbestellt hast, Söhnchen, oder?«
»Ich hab's dir schon gesagt. Ich hab dich nicht herbestellt.«
»Du bist ein sturer Hund. Hast Glück, daß du ganz nach mir kommst, sonst hätt ich dir längst eine verpaßt. Kapier endlich, daß ich nur hier bin, weil du mich herbestellt hast, so ist das, und nicht anders. Übrigens gehe ich nicht in solche Kneipen, ich mag die Musik nicht.«
»Gut«, meinte Joss und gab sich geschlagen. »Soll ich dir einen ausgeben?«
»Wenn du den Arm noch hochbringst. Ich muß sagen, du hast schon ganz schön einen sitzen.«
»Behalt's für dich, Alter.«
Der Vorfahr zuckte mit den Achseln. Er hatte schon ganz andere Sachen erlebt, und diese Rotznase würde ihn nicht auf die Palme bringen. Aber ein Le Guern, der Klasse hatte, dieser Joss, da konnte man nichts sagen.
»Du hast also keine Frau und keine Kohle?« fuhr der Alte fort und stürzte seinen Chouchen hinunter.
»Du triffst den Nagel auf den Kopf«, antwortete Joss. »Zu deiner Zeit warst du nicht so helle, nach allem, was man sich so erzählt.«
»Das kommt, weil ich ein Gespenst bin. Wenn man tot ist, weiß man Sachen, die man vorher nicht gewußt hat.«
»Sag bloß«, erwiderte Joss und winkte lasch in Richtung Kellner.
»Was die Frauen angeht, hätte sich's nicht gelohnt, mich um Rat zu fragen, da kenn ich mich nicht so gut aus.«
»Das hab ich fast vermutet.«
»Aber das mit der Arbeit ist kein Hexenwerk, mein Junge. Mach einfach das, was deine Familie gemacht hat. Im Spulenwerk hattest du nichts verloren, das war ein Fehler. Außerdem, denk dran, man darf den Dingen nicht trauen. Mit Tauwerk geht's noch, aber Trommeln und Draht... Von Korken will ich schon gar nicht reden, da sucht man besser gleich das Weite.«
»Ich weiß«, sagte Joss.
»Man muß seine Begabungen nutzen. Mach's wie die Familie.«
»Ich kann nicht mehr Seemann sein«, entgegnete Joss gereizt. »Ich bin unerwünscht.«
»Wer spricht denn von Seemann? Es gibt doch noch mehr im Leben als Fische, Herr im Himmel, das fehlte noch. War ich etwa Seemann?«
Joss leerte sein Glas und konzentrierte sich auf die Frage.
»Nein«, sagte er nach einer Weile. »Du warst der Ausrufer. Von Concarneau bis Quimper warst du der Nachrichtenausrufer.«
»Jaa, mein Junge, und darauf bin ich stolz. ›Ar Bannour‹ war ich, der ›Ausrufer‹. Es gab keinen Besseren an der Südküste als mich. Jeden Tag, den Gott schuf, ist Ar Bannour in ein neues Dorf gegangen und hat mittags die Nachrichten ausgerufen. Und ich kann dir sagen, daß da eine Menge Leute standen, die seit Tagesanbruch auf mich warteten. Siebenunddreißig Dörfer hatte ich in meinem Gebiet, ist das nichts, na? Ganz schön viele Leute, wie? Eine Menge Leute, die Verbindung zum Rest der Welt hatten. Und zwar wie? Dank der Nachrichten. Und dank wem? Dank mir, Ar Bannour, dem besten Nachrichtensammler des Finistère. Meine Stimme schallte von der Kirche bis zum Waschhaus, und um Worte war ich nie verlegen. Jeder reckte den Kopf, um mich zu hören. Meine Stimme brachte die Welt, das Leben, und das war was anderes als Fische, das kannst du mir glauben.«
»Jaja«, sagte Joss, während er sich nun selbst aus der Flasche nachschenkte, die auf der Theke stand.
»Das Zweite Kaiserreich, das habe ich ausgerufen. Bis nach Nantes bin ich gegangen, um Neuigkeiten zu erfahren, bin dann mit ihnen zurückgeritten, und immer noch waren sie so frisch wie Ebbe und Flut. Die Dritte Republik habe ich über alle Strände ausgerufen, das Spektakel hättest du sehen sollen. Ganz zu schweigen von den lokalen Ereignissen: Hochzeiten, Todesfälle, Streitigkeiten, Fundsachen, abhanden gekommene Kinder, zu beschlagende Hufe, ich war es, der all das verbreitete. Von Dorf zu Dorf gab man mir Nachrichten mit, die ich zu
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