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Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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verlesen hatte. Die Liebeserklärung von dem Mädchen aus Penmarch an einen Jungen aus Sainte-Marine, ich erinnere mich noch genau. Ein Skandal, der sich gewaschen hatte, und danach ein Mord.«
    »Du hättest dich zurückhalten können.«
    »Mensch, ich wurde für's Vorlesen bezahlt. Wenn ich nicht vorgelesen hätte, hätte ich die Kunden bestohlen, und die Le Guerns sind vielleicht eine rohe Sippe, aber keine Gauner. Die Dramen, Liebesgeschichten und Eifersüchteleien dieser Fischer waren nicht meine Angelegenheiten. Ich hatte genug damit zu tun, mich um meine eigene Familie zu kümmern. Einmal im Monat bin ich im Dorf vorbeigekommen, um die Bälger zu sehen, in die Messe zu gehen und mir einen hinter die Binde zu gießen.«
    Joss seufzte in sein Glas.
    »Und um Geld dazulassen«, ergänzte der Ururgroßvater mit fester Stimme. »Eine Frau und acht Bälger, die fressen einem die Haare vom Kopf. Aber glaub mir, Ar Bannour hat sich immer um sie gekümmert.«
    »Mit Ohrfeigen?«
    »Mit Moneten, Dummkopf.«
    »Das hat soviel eingebracht?«
    »Soviel du wolltest. Wenn es irgend etwas gibt, das auf der Welt immer geht, dann sind es Nachrichten, und wenn es einen Durst gibt, der nie gestillt wird, dann ist es die menschliche Neugier. Wenn du Ausrufer bist, gibst du der ganzen Menschheit die Brust. Und du kannst sicher sein, daß die Milch nie ausgeht und es immer genügend Münder gibt. Aber wenn du soviel säufst, Söhnchen, kannst du nie Ausrufer werden. Das ist ein Beruf, der einen klaren Kopf erfordert.«
    »Ich will dich nicht enttäuschen, Großvater«, sagte Joss kopfschüttelnd, »aber ›Ausrufer‹ ist heutzutage kein Beruf mehr. Würdest nicht mal mehr jemand finden, der das Wort kapiert. ›Schuster‹ schon, aber ›Ausrufer‹, das steht nicht mal im Wörterbuch. Ich weiß nicht, ob du dich seit deinem Tod auf dem laufenden gehalten hast, aber die Welt hier hat sich ganz schön verändert. Man muß niemandem mehr auf dem Kirchplatz die Ohren vollschreien, alle lesen Zeitung, haben Radio und Fernsehen. Und wenn du in Loc Tudy ins Internet gehst, erfährst du, ob in Bombay jemand gegen 'nen Baum gepißt hat. Denk mal drüber nach.«
    »Hältst du mich für einen alten Idioten?«
    »Ich klär dich bloß auf. Jetzt bin ich dran.«
    »Dir entgleitet das Ruder, armer Joss. Geh wieder auf Kurs. Hast nicht viel verstanden von dem, was ich dir gesagt habe.«
    Joss richtete seinen leeren Blick auf die stattliche Gestalt des Ururgroßvaters, der von seinem Barhocker herunterstieg. Ar Bannour war für seine Zeit groß gewesen. Und es stimmte, er selbst hatte Ähnlichkeit mit diesem Grobian. »Der Ausrufer«, sagte der Ahn mit Nachdruck und schlug mit der Hand auf die Theke, »ist das Leben. Und sag mir nicht, daß niemand mehr versteht, was das Wort bedeutet, und auch nicht, daß es in keinem Wörterbuch mehr steht, oder du sagst damit, daß die Le Guerns aus der Art geschlagen sind und es nicht mehr verdienen, es auszurufen, das Leben!«
    »Armer alter Idiot«, brummte Joss, als er seinem Urahn hinterhersah. »Armer alter Schwätzer.«
    Er stellte sein Glas auf die Theke und grölte ihm nach: »Ich hab dich nicht um Rat gefragt, damit das klar ist!«
    »Jetzt reicht's aber«, rief der Kellner und packte ihn am Arm. »Seien Sie vernünftig, Sie stören die anderen Gäste.«
    »Ich scheiß auf die Gäste!« brüllte Joss und klammerte sich an die Theke.
    Dann, so erinnerte sich Joss, hatten ihn zwei Typen, die kleiner waren als er, aus der Bar d'Artimon hinausbefördert, und er war gut hundert Meter die Fahrbahn entlanggewankt. Neun Stunden später war er in einem Hauseingang aufgewacht, mehr als zehn Metrostationen von der Bar entfernt. Gegen Mittag hatte er sich in sein Zimmer geschleppt, die Hände um seinen berstenden Schädel gepreßt, und dann bis zum nächsten Morgen um sechs Uhr geschlafen. Unter Schmerzen hatte er die Augen aufgeschlagen, die schmutzige Decke seines Zimmers angestarrt und voller Starrsinn gemurmelt:
    »Armer alter Idiot.«
     
    Sieben Jahre war es nun her, daß Joss nach einigen schwierigen Monaten der Einarbeitung - den richtigen Ton treffen, der eigenen Stimme Natürlichkeit verleihen, den Standort aussuchen, die Rubriken bestimmen, Stammkunden gewinnen, die Preise festlegen - den veralteten Beruf des ›Ausrufers‹ ergriffen hatte. Ar Bannour. Mit seiner Urne hatte er verschiedene Stellen in einem Umkreis von siebenhundert Metern um die Gare Montparnasse abgeklappert, von der er sich nicht zu

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