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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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keine Absage, denkt Hartmut und wählt ihre Nummer. Wann sie das Theater verlassen kann, hängt von vielen Dingen ab: dem Verlauf der Proben, Falk Merlingers aktueller Stimmung und der Anzahl unbeantworteter E-Mails in ihrem Computer. Nach dem zweiten Läuten hebt sie ab, klingt gut gelaunt und fragt, wo er abgeblieben sei.
    »Hackescher Markt. Unter den S-Bahn-Bögen.«
    »Bleib, wo du bist«, sagt sie. »Ich hab eine Stunde.«
    Der Kellner bringt die Getränke. Säuerlich und erfrischend kühl rinnt der Wein seine Kehle hinunter. Draußen fällt Sonnenlicht durch die Blätter der Bäume. Der Gitarrenspieler geht mit seinem Hut in der Hand durch die Tischreihen, weiter hinten hocken Punks zwischen ihren Hunden. So könnte es sein, denkt er. Hier sitzen und nach einem ausgefüllten Vormittag im Verlag auf Maria warten. Ein leichter Lunch und entspannte Gespräche, die unspektakuläre Schnittmenge von ihrem und seinem Alltag. Maria würde sich über Merlingers Launen beklagen, er hätte einen Autor von seinem Titelvorschlag überzeugt. Gemeinsam könnten sie darüber lachen, was für Manuskripte sie auf ihrem Schreibtisch vorfinden. Was die Leute sich denken! Nach einer Stunde müsste lediglich noch geklärt werden, ob sie am Abend zu Hause oder auswärts essen.
    Eines hat er damals sofort gewusst: Dass Peter Karows Angebot ihn in einen Konflikt stürzte, aus dem es kein schnelles Entrinnen gab. Knapp zwei Monate liegt die Verabredung am Planufer zurück. Es war ein Sommerabend, an dem die Hitze des Tages in den Straßen liegen blieb wie ein träges Tier und alle Menschen ins Freie lockte. Maria hatte im Theater zu tun und wollte ihnen später Gesellschaft leisten. Bis dahin saßen Peter und er zu zweit unter den Kastanien der Casa del Popolo , aßen Caprese, tranken Chianti, und Hartmut fragte sich, ob der ausführliche Bericht über die Expansion des Verlags eher dem Wein oder Peters Verlegenheit zuzuschreiben war. Sie kannten einander kaum. Auf der Premierenfeier im vorletzten Herbst wären sie grußlos aneinander vorbeigelaufen ohne Marias Intervention. Die erste Begegnung seit zwanzig Jahren. Als Peter ihn beim Hauptgang fragte, ob er bei Karow & Krieger als Programmleiter einsteigen wolle, glaubte Hartmut an einen Witz. Sein Gegenüber blieb ernst. Maria habe ihm erzählt, dass er seit Ausbruch des universitären Reformchaos die Lust an seiner Arbeit zusehends verliere. Reif für eine neue Herausforderung, lautete die Formulierung. Hartmut erinnert sich genau an den Moment. Es war spät, aber immer noch hell. Pärchen und türkische Familien gingen über die Brücke zum Fraenkelufer, und ihm saß plötzlich ein Kloß im Hals. Nach Westen öffnete sich der Blick auf seine alte Heimat. Schwäne zogen über das Wasser und sammelten sich vor den grünen Wiesen am Urbanhafen. Darüber der Großstadthimmel in seiner wohltuenden Gleichgültigkeit. Er kannte das Gefühl, obwohl er es lange nicht empfunden hatte: zu Hause sein wollen und nicht zu wissen wo. Bloß zu spüren, wie es wäre. Zwei Mal musste er sich räuspern, bevor er antworten konnte: »Wenn ich das nächste Mal in derStadt bin, schau ich vorbei.« Seitdem sitzt in der Fracht seiner Gedanken ein blinder Passagier und verrät sich durch vorlaute Fragen. Warum nicht? Was ist so großartig an seiner Bonner Einsamkeit, dass er sie nicht aufgeben kann?
    Um halb eins sieht er seine Frau über den Hackeschen Markt kommen. Mit beiden Händen schiebt sie ihr Fahrrad durch die Menge, und er genießt es für einen Moment, sie unbemerkt zu beobachten. Noch immer mag er den eleganten Gang und den sanften Stolz ihrer Augen. Ist seinerseits stolz, wenn er sie jemandem vorstellt mit ihrem klangvollen portugiesischen Namen. Sie stellt ihr Rad ab, schaut sich suchend um und will gerade aus seinem Blickfeld verschwinden, als er sie auf dem Handy anruft.
    »Ich sitze drinnen«, sagt er. »Erstes Restaurant neben der Straße. Rocco oder Rocky oder so ähnlich.«
    »Drinnen?« Kopfschüttelnd klappt sie ihr Handy zu und kommt ihm durch das leere Restaurant entgegen. Sie trägt eine beige Bluse über der schwarzen Leinenhose und im Gesicht den Widerschein von etwas, das sie erlebt oder gedacht hat und hoffentlich gleich mit ihm teilen wird. »Warum sitzt du drinnen? Der Sommer ist draußen.«
    »Da war kein Tisch frei, und ich wollte nicht neben schwitzenden Touristen sitzen.«
    »Sondern lieber alleine.« Sie küsst ihn nicht flüchtig, aber kurz. Schaut auf den Tisch und in

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