Fliehkräfte (German Edition)
sein Gesicht. Eine Wochenendehe führen heißt im Diskontinuum leben und verlangt nach schneller Auffassung und Anpassung. Maria ist darin besser als er.
»Wein zum Mittagessen«, sagt sie zufrieden. »Dann darf ich rauchen.«
Gemeinsam nehmen sie Platz, und Hartmut schiebt den gläsernen Aschenbecher in ihre Richtung. Wie so oft wundert er sich, dass er zwar nicht mag, wenn sie raucht, ihr aber nicht ungern dabei zusieht. Bevor sie anfangen können zu reden, kommt der Hüne zurück, und Maria bestellt eine große Apfelsaftschorle. Die vor ihr abgelegte Speisekarte ignoriert sie vorerst. Stattdessen sieht sie ihn an und passt auf, dass der Rauch nicht in seine Richtung treibt.
»Du siehst müde aus, kann das sein?« Nach Philippas Geburt hat seine Frau viele Jahre lang auf Zigaretten verzichtet, und rückblickend glaubt Hartmut an eine Verbindung zwischen dem Rückfall in ihre Nikotinsucht und dem langsam reifenden Entschluss, notfalls alleine aus Bonn wegzuziehen. »Oder nicht müde, sondern ...« Fragend nach oben gezogene Augenbrauen beenden den Satz.
»Schlecht geschlafen hab ich.«
»In meinem engen Bett.«
»Außerdem hatte ich ein unangenehmes Erlebnis auf der Straße.« Er greift nach seinem Glas, aber den Wein hat er schon ausgetrunken. In wenigen Sätzen schildert er den Vorfall und kann nichts dagegen tun, dass sein Bericht nach Rechtfertigung klingt. Maria sitzt zurückgelehnt auf ihrem Stuhl und ist, über einen Graben hinweg, den man nur von seiner Seite aus sehen kann, die Aufmerksamkeit selbst.
»Was heißt ›angebrüllt‹?«, fragt sie.
»Ziemlich laut.«
»Ärgerlich laut oder außer Kontrolle laut?« Sie will wissen, aber nicht direkt fragen, ob er sich noch einmal hat gehen lassen wie bei ihrem großen Streit vor einem Jahr. Diesmal einer Fremden gegenüber und auf offener Straße. Also erwähnt er ein anderes Beispiel.
»Ich hab mich gefühlt wie damals mit Herwegh. Als er mich aus seinem Büro schicken wollte wie einen aufdringlichen Studenten. Als ich ihn zusammengestaucht habe und plötzlich hören konnte, dass nebenan niemand mehr tippt oder telefoniert, weil alle die Ohren spitzen und denken: Was ist denn in den Hainbach gefahren?«
»Herwegh hatte dich beleidigt.«
»Ich weiß. Ich wollte das Gefühl beschreiben.«
»Okay.« Sie zieht an ihrer Zigarette und streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Du kamst dir gemaßregelt vor.«
Er nickt und trinkt einen Schluck Wasser. Gemaßregelt ist beinahe das richtige Wort, und trotzdem ärgert er sich, dass er Maria den Vorfall mit der Spendensammlerin erzählt hat. Seine Schilderung ergibt keinen Sinn, solange er auslässt, dass er wegen des Termins im Verlag angespannter war, als er sich eingestehen wollte.
Der Barkeeper bringt Marias Getränk und fragt, ob sie essen möchten. Hartmut bestellt Chili con carne, seine Frau den üblichen Salat. Als wollte die Stadt einen eigenen Kommentar zu dem Vorfall abgeben, erklingen draußen wütende Stimmen, und sofort drehen die Gäste unter den Sonnenschirmen die Köpfe. Ein Schimpfwort folgt auf einen vulgären Fluch, jemand ist blind und ein anderer bescheuert, dann müssen die Streithähne weiter, und die Anspannung löst sich auf. Nichts passiert.
»Jetzt fühlst du dich schlecht?«, fragt Maria.
»Stolz bin ich nicht. Sie engagiert sich für einen guten Zweck, und ich – hab ihre Bemerkung in den falschen Hals bekommen.« Den Wortlaut seines Ausbruchs hat er leicht zensiert und ›Arsch‹ durch ›sonst wohin‹ ersetzt. So klingt es eher nach einer Lappalie als nach abermaligem Kontrollverlust.
Maria wischt das Thema wie eine Rauchwolke beiseite und lächelt.
»Würde ein Witz unserer Tochter dich aufmuntern? Hat sie mir heute Morgen geschickt.« Das war es, was er beim Reinkommen auf ihrem Gesicht gesehen hat, die Erinnerung an einen Witz von Philippa, den sie ihm erzählen will.
»Ist er lustig?«
»Gut bis sehr gut.«
»Okay. Lass hören.«
Seine Frau ist in der Familie als mäßige Witze-Erzählerin bekannt. Meistens ohne das richtige Timing, zu schnell mit der Pointe, als wollte sie alles möglichst rasch hinter sich bringen. Ihre Begeisterung fürs Theater ist von jeher frei gewesen von dem Wunsch, selbst auf der Bühne zu stehen. Stattdessen spielt sie in Merlingers Ensemble das Mädchen für alles, pflegt dieKontakte zum Feuilleton, tröstet sensible Schauspieler und fungiert notfalls als Blitzableiter für die Launen des großen Maestro.
»Ich weiß, dass du
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