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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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mich erst später eingeholt haben. Im Nachhinein ist schwer zu entscheiden, ob ...« Er schreckt auf, weil er einen Schlag auf die Schulter bekommt; nicht fest, aber so unerwartet, dass sein Knie gegen den Tisch stößt und Bier aus dem Becher schwappt. Als er sich umdreht, blickt er in das Gesicht des Sängers. Er hält Hartmut die CD vor die Nase und macht eine Geste, als wollte er sagen: Kauf das hier, mein Freund, und du bist alle Sorgen los.
    »Was ist da los bei dir?«, fragt Ruth.
    »Alles okay. Es ist nur Musik.« Er signalisiert dem Sänger, dass er beschäftigt sei, und der trommelt ihm noch ein paar Mal mit dem Holzinstrument auf die Schultern, bevor er zum nächsten Tisch springt. Die Aufmerksamkeit der anderen Gäste folgt ihm. »Ich muss bald zurück, Ruth. Wir gehen heute Abend mit João essen.«
    »Jetzt hast du gar nicht erzählt, ob du eine Entscheidung getroffen hast.«
    »Ich hab entschieden, dass ich es mit Maria besprechen muss.«
    »Als du hier warst, hast du gesagt, du musst erst einmal für dich herausfinden, was du willst.«
    »Das hat nicht geklappt. Ich hab’s versucht, aber es hat zu nichts geführt.«
    »Verstehe«, sagt sie noch einmal. »Ich muss auch los.«
    »Ich melde mich, wenn es was Neues gibt.«
    »Okay. Pass auf dich auf und grüß alle.« Seine Schwester klingt nachdenklich, als frage sie sich, was er ihr mit seiner Erzählung sagen wollte. Was er in diesem Moment selbst nicht weiß. Es ist genug, denkt er. Er hat sein Bier ausgetrunken, die Hitze lässt nach, und der Betrieb an der Maurenmauer nimmtzu. Eine Menschentraube umringt die fünf Musiker. Immer noch der schönste Platz in Lissabon. Solange die Sonne scheint und seine Füße ihn tragen, wird er hierherkommen. Das Stück endet, Applaus brandet auf, und ohne ein letztes Wort schaltet Hartmut das Telefon einfach aus.

14 Als er die südlichen Außenbezirke von Porto erreicht, ist die Sonne bereits untergegangen. Mehrspurig führt die Autobahn über den Douro. Bei seinem letzten Besuch wurde am neuen Estádio do Dragão noch gebaut, jetzt passiert Hartmut das fertige Bauwerk und folgt der Beschilderung zum Flughafen. Das Navigationsgerät hat er ausgeschaltet. Im großen Bogen fließt der Verkehr um die Stadt herum nach Matosinhos, und über den Dächern erscheint die erste tief fliegende Maschine. Beide Hände aufs Lenkrad gelegt, zieht Hartmut die Schultern zurück und bewegt den Kopf hin und her. Seine Verspannung steigert sich zu kribbelnder Taubheit und reicht die Arme hinunter bis zu den Ellbogen. Den Feierabendverkehr hat er zum Glück vermieden. Noch ein paar Kurven, der letzte Hinweis ›aeroporto‹, dann rollt er an Lagerhallen vorbei dem flachen Flughafengebäude entgegen. Dahinter ist das Land zu Ende, und der Horizont glüht rot und gelb. Die Uhr am Armaturenbrett zeigt kurz nach halb neun.
    In der Tiefgarage zieht er ein Ticket und findet einen freien Parkplatz. Am Mittag hat er außer dem Kulturbeutel ein zweites Hemd auf die Rückbank gelegt, nun greift er nach den Sachen, nimmt sein Telefon vom Beifahrersitz und schaut aufs Display. Immer noch nichts von Philippa. Das Gesicht im Rückspiegel kommt ihm gerötet vor. Der Bartwuchs lässt es voller erscheinen und verleiht ihm Züge eines anderen Typs, eines Zigarillorauchers, der sich für moderne Kunst interessiert. Heute Morgen in Joãos Badezimmer hat er den Bart mit der Nagelschere gestutzt und gedacht, dass eine Brille mit dunklem Rahmen besser passen würde als das randlose Modell, das er schon zu lange trägt. Die Hoffnung, dass Maria sein neues Aussehen mögen werde, begleitet ihn seit der Abfahrt aus Lissabon. Als wäre das die Frage, an der sich die Zukunft entscheidet.
    Francisco Sá Carneiro ist ein kleiner und gut überschaubarer Flughafen. Hartmut muss nur wenige Meter laufen und ein Mal mit der Rolltreppe fahren, schon steht er in der langgezogenen Ankunftshalle. In der Mitte, wo Passagiere von der Gepäckausgabe kommen, bildet sich eine Menschentraube, an den Seiten warten die üblichen Cafés und Autovermietungen auf Kundschaft. Auf der Anzeigentafel steht, dass Flug TP937 aus Genf zwanzig Minuten früher als geplant erwartet wird. Mit dem frischen Hemd in der einen und seinem Kulturbeutel in der anderen Hand eilt Hartmut weiter zur Herrentoilette und ist froh, der einzige Benutzer zu sein. Neonlicht spiegelt sich in den Bodenkacheln. Hastig macht er den Oberkörper frei und wäscht sich die Achselhöhlen, tupft sie mit Papierhandtüchern

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