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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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nur noch oberhalb von Arnau offen durch die Landschaft. Am Waldrand entlang und an der Wiese vorbei, wo sie früher einen ihrer Äcker gehabt hatten. Sofort dachte er an die Kartoffelernte in den Herbstferien, an klamme Finger und Rückenschmerzen vom ständigen Bücken. Wenn sie so klein waren, dass man sie nur an die Schweine verfüttern konnte, hießen sie Saukartoffeln.
    »Kürzlich hab ich davon geträumt, aber es war kein Traum. Glaub ich jedenfalls.« Ruth sah ihn von der Seite an, und er schaute aufs Haus. »Wir waren oben beim Grundstück. Du und ich, und wir sind nicht durch den Ort zurückgegangen, sondern durch den Wald. Obwohl du dein Fahrrad dabeihattest. Ich dachte, du willst lieber schieben, statt mich auf dem Gepäckträger mitzunehmen. Du hast es gehasst, mich mitzunehmen. Stimmt’s?«
    »Davon willst du anfangen?«
    »Irgendwo da oben haben sie uns aufgelauert. Oder vielleicht waren sie zufällig da, das weiß ich nicht mehr. Drei oder vier, dieselben, die dich in der Schule terrorisiert haben. Manchmal weiß ich sogar noch ihre Namen, im Moment nicht.«
    Ohne zu antworten, betrachtete er seine Hände auf dem Lenkrad, als wären es scheue Tiere, die von einem Moment auf den nächsten hinter den Armaturen verschwinden könnten. Würde er nachdenken, käme er selbst drauf. Zumindest auf die Hausnamen.
    »Es war von der ersten Sekunde an klar«, sagte Ruth. »Ich hab mich mit aller Kraft darauf konzentriert, nicht vor Angst in die Hose zu machen. So sehr, dass ich kaum mitbekommen habe, was passiert ist. Sie haben dein Fahrrad genommen und die Böschung runtergeworfen. Mich haben sie in Ruhe gelassen. Dann waren sie weg.«
    »Das war alles?«
    »Du bist runtergeklettert, um dein Fahrrad zu holen. Ich wollte dir helfen, aber du hast mich angeschrien, dass du das alleine kannst. Ich wusste, dass du sauer auf mich warst, erstens, weil du immer sauer auf mich warst, und zweitens, weil du meinetwegen nicht durchs Dorf zurückgefahren bist. Das Rad hatte sich in den Sträuchern verfangen, es hat lange gedauert, es rauszuholen. Natürlich ist deine Hose schmutzig geworden, und ich wusste, dass unser Vater dich dafür schimpfen würde.« Ruth seufzte, sprach aber gleich weiter. »Dann waren wir zu Hause. Es kam, wie es kommen musste, und ich hab mich gefragt, warum du ihm nicht sagst, was passiert ist. Warum du ihm nicht gesagt hast, dass diese Jungs dein Fahrrad die Böschung runtergeworfen haben und deine Hose deshalb schmutzig ist.«
    Er konnte Ruths Stimme anhören, dass ihr das Sprechen schwerfiel. Ihm nicht. »Ich hab zwar nicht davon geträumt kürzlich, aber ich glaube, sie war eingerissen und musste genäht werden.« Direkt unter dem Küchenfenster öffnete sich eine Tür, die früher in die Waschküche und von dort in die Werkstatt geführt hatte. Eine junge stämmige Frau kam heraus, trug eine Wäschewanne unter dem Arm und schien sofort zu bemerken, dass sie beobachtet wurde.
    »Nicht mehr lange, und jemand ruft die Polizei«, sagte er.
    »Ich frage mich das immer noch. Warum? Es hätte alles erklärt.«
    »Weil er mich trotzdem geschlagen hätte und ich ihn dann dafür hätte hassen müssen.« Je länger er schaute, desto geringer erschienen ihm die Veränderungen an Gebäude und Garten. Unverkennbar dasselbe Haus, in dem Dofels Hartmut seine Kindheit verbracht hatte. Die Frau ging zu der vorm Scheunentor aufgespannten Leine und begann, Kindersachen aufzuhängen. Ruth nickte.
    »Damals hatte ich das Gefühl, du willst, dass ich es sage.«
    »Hast du aber nicht.«
    »Es war genau wie in meinem Traum. Ich wollte und konnte nicht.«
    »Offenbar ist das nicht nur in Träumen so.« Er wendete den Kopf und war überrascht. Ruth sah ihn an, als hätte er eine treffende und für seine Verhältnisse sogar humorvolle Bemerkung gemacht.
    »Nein, ist es nicht«, sagte sie. »Obwohl, manchmal will man und kann nicht, und manchmal hat man längst und will es nicht zugeben. Es gibt beides, glaubst du nicht?« Dass sie sich über ihren gelungenen Konter noch mehr freute als über seine Bemerkung, erleichterte ihm den Verzicht auf eine scharfe Erwiderung.
    »Du meinst, ich hab ihm längst verziehen?«
    »Ich meine, es war überflüssig, noch mal davon anzufangen. Tut mir leid. Lass uns fahren.«
    »Was macht dich so sicher?«
    »Fahr zu, Hartmut! Ich kenne dich. Du bist der Erste, der sich beschwert, dass es mit dem Abendessen so lange dauert.«
    »Die kleine dumme Ruth«, sagte er und ließ sich von seiner

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