Fliehkräfte (German Edition)
begegnet ihm, als hätte sie gewusst, wo er steht. Lächelnd hebt sie die Hand und weicht einem Elternpaar aus, das blindlings auf seinen erwachsenen Sohn zustürzt. Die Handtasche hängt über ihrer Schulter, und sie zieht den kleinen roten Rollkoffer hinter sich her. Ein Geschenk von ihm. Déjà-vu, denkt er. Dutzendfach haben sie einander in den letzten zwei Jahren wiedergesehen auf Bahnhöfen und Flughäfen. Haben hallo gesagt und sich umarmt, für einen Moment dieUmwelt vergessen und umständlich mit Gepäckstücken und Gefühlen hantiert. Zaghaft erwidert er ihr Winken. Noch ein paar Schritte, dann tritt Maria auf ihn zu mitsamt dem Hauch von Tabak und frischer Creme. In den kleinen Fältchen um die Augen kann er lesen, wie müde sie ist. Sie trägt die lange blaue Strickjacke, mit der sie sich in Flugzeugen gegen die Klimaanlage schützt, und zieht fragend die Augenbrauen nach oben.
»Olá«, sagt er. »Bem-vinda.«
»Olá amor.« Als wollte sie wissen, bist du’s wirklich? Eine überflüssige Frage, die sie umgehend weglächelt, um ihn zu umarmen.
Die merkwürdige Sensation des Altbekannten. Marias Duft und die vertraute Gestalt. Plötzlich ist alles da, was er in den letzten zwei Wochen vermisst hat. Er kann sie nur an sich drücken und staunen. Um sie herum tun fremde Menschen dasselbe wie Maria und er. Tauschen Küsse, Umarmungen, erste Worte. Der erwachsene Sohn wird von seinen Eltern zum Ausgang eskortiert wie eine lebende Trophäe. Dann verwischt das Bild, und er muss ein paar Mal blinzeln, bevor er seine Frau anschauen kann.
»Du weinst und hast einen Bart.« Maria versucht zu lachen, aber auch in ihren Augen schimmert es.
»Wie findest du’s?«
»Was von beiden?«
»Den Bart, Maria. Gefällt er dir?«
Sie mustert ihn eingehend. Über zwanzig Jahre, denkt er, und jetzt diese hilflose Freude. Die Tränen, die über ihre Wangen rollen, beachtet sie nicht, sondern fährt mit der Hand über die schwarzen und weißen Stoppeln.
»Ja, gefällt mir«, sagt sie. »Du siehst ein bisschen aus wie Botho Strauß.«
»Damit kann ich leben.«
»Einen Sonnenbrand hast du auch.« Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und küsst ihn, und er zieht sie noch einmal zu sich heran. Er dachte, sein Gesicht würde vor Aufregung glühen.
»Was Neues von meinem Vater?«, fragt sie dicht an seinem Ohr.
»Philippa und João haben eben gemeldet, dass sie gut in Rapa angekommen sind. Arturs Blutwerte sind schon wieder besser. Morgen soll er entlassen werden.«
Maria legt den Kopf zurück und presst die Lippen zusammen.
»Du wirst behaupten, ich würde das immer sagen, aber ich kann spüren, dass es diesmal ernst ist.«
»Die Ärzte scheinen das nicht zu glauben.« Es wäre ihm lieber, ihre Aufmerksamkeit würde noch für einen Moment alleine ihm gelten. Die Zeit der Trennung war kürzer als sonst, aber die Entfernung größer denn je. »Willst du gleich hinfahren? Heute Nacht noch?«
»Nein, aber ich hab’s meiner Mutter versprochen. Was ist das für eine Wunde?« Wieder fährt ihre Hand über seine Wange, dorthin, wo ihn der Ehering des Bremer Campers getroffen hat. Bereits verkrustet und vom Bartwuchs halb verdeckt.
»Kleine Schramme. Wir könnten anrufen und sagen, dass es zu spät geworden ist. Was nicht gelogen wäre. Es ist gleich zehn, und wir brauchen drei Stunden.«
Noch einmal küsst Maria ihn, dann macht sie sich los aus seiner Umarmung und nimmt die Handtasche auf die andere Schulter. Ihr Nicken bedeutet nur, dass sie verstanden hat, was er sagen will. Es ist halb zehn, und natürlich brauchen sie um diese Zeit nicht drei Stunden, eher zwei. Ab Aveiro geht es auf leeren Straßen durch die Berge.
»Du bist wirklich mit unserem Wagen gekommen, die ganze Strecke?«
»Ja.« Er nimmt den Koffer und ihre feuchte Hand. Wortlos durchqueren sie die Halle. Hinter gläsernen Wänden blinkt ein Gewirr von stehenden und fahrenden Lichtern in der Nacht. Feuchte Hände sind ein schlechtes Zeichen, und Hartmut könnte nicht sagen, warum sie ihn in diesem Moment trotzdem beruhigen. In der Tiefgarage piept er das Auto auf und hebtMarias Gepäck in den Kofferraum. Über das verstaubte Autodach hinweg sehen sie einander an.
»Sind die beiden mit dem Motorrad nach Rapa gefahren?«, fragt sie. »Doch hoffentlich nicht.«
»Philippa hat eine SMS geschrieben. Sie sind gut angekommen.«
»Mein Bruder weiß genau, dass ich das nicht will. Und du auch. Wieso hast du’s nicht verboten?«
Darauf erwidert er nichts, hört
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