Fliehkräfte (German Edition)
Schwester gegen den Oberarm boxen. Die junge Frau stand vor der Wäscheleine und tat nicht länger so, als wäre sie mit den Hosen und T-Shirts ihrer Kinder beschäftigt. Ruths fröhliches Winken erwiderte sie nicht.
Keine zwei Wochen ist das her.
Der Sänger hat wieder seinen Platz bei den anderen Musikern eingenommen. Die Band intoniert ein Stück aus Buena Vista Social Club . Hartmut trinkt einen Schluck Bier, spürt den ersten angenehmen Anflug von Trunkenheit und fragt: »Weiß man schon, ob Junge oder Mädchen?«
»In der zehnten Woche? Außerdem wollen sie sich überraschen lassen. Das Wichtigste ist, dass es Mi Sun gut geht und das Kind gesund zur Welt kommt.«
Mi Sun heißt sie. Aber ihr Land beginnt mit K.
»Grüß die beiden, Felix auch. Der wird wohl nicht so schnell Vater werden.«
»Jedenfalls nicht absichtlich«, sagt Ruth mit einem Seufzer, der weniger sorgenvoll klingt als beabsichtigt. Derselbe Ton, in dem sie seit Jahren von Felix und seinen mehr oder weniger dramatischen Eskapaden spricht. Auf dem Speicher am Rehsteig stehen immer noch Kartons voller Haustierzubehör, mit dessen Online-Verkauf er und seine Freunde vor Jahren schnell reich und noch schneller wieder arm geworden sind, als die Blase platzte. Anschließend musste Felix jobben, um die Schulden zu begleichen, und ist erst an die Uni zurückgekehrt, als es bereits Dozenten seines Jahrgangs gab. Wenn er klamm ist, packt er in Bergenstadt einige Restbestände in den Kofferraum und vertreibt sie über Ebay. Ansonsten verdient er sich die Sympathie seines Onkels, indem er die Erinnerung daran wach hält, dass früher viele Studenten so alt waren wie er und ebenso viele exotische Hobbys gepflegt haben.
»Vielleicht überlegt er sich’s noch«, sagt Hartmut.
Sein Neffe kann Lenkdrachen basteln, Alphorn spielen und zwanzig Meter auf den Händen laufen. Auch wenn es hoffnungslos ist, wenigstens Einzelne müssen sich der Beschleunigung des Ganzen verweigern. Die Schulzeit wird kürzer, das Studium effizienter, immer mehr Freiräume fallen weg. Die Folgen sind vorerst nur zu erahnen. Mehren sich nicht die Hinweise, dass Bankvorstände ihre Pubertät am Arbeitsplatz nachholen?
»Irgendwann wird es dich auch treffen«, sagt Ruth vergnügt. »Opa Hartmut.«
»Kann sein. Wer weiß das schon.« Trotz des leisen Schmerzes kann er sich ein Lachen nicht verkneifen. »Meine Tochter ist eine eigenwillige und unangepasste junge Frau. Schwer zu durchschauen.« Seine Rache dafür, dass Philippa nicht mitkommen wollte zur Maurenmauer. Warum konnte sie ihm den kleinen Gefallen nicht tun? Nach allem, was sie in den letzten Tagen erlebt haben.
»Das ist in dem Alter normal. Außerdem gilt es für dich genauso. Was lachst du?«
»Keine Ahnung. Es erscheint mir alles so ... Dir nicht? Waswir sagen und tun und was damit gemeint und beabsichtigt ist. Wir denken, wir wüssten es, aber es ist nur eine Möglichkeit unter anderen. In Wirklichkeit haben wir keine Ahnung. Wir raten.«
»Philosoph«, sagt Ruth ohne Spott.
»Hab ich dir von meinem letzten Besuch in Minneapolis erzählt?«, fragt er. »Vor drei Jahren, als Stan Hurwitz beerdigt wurde.«
»Ich weiß, dass du dort warst.«
»Ich bin genauso kurz entschlossen aufgebrochen wie diesmal. Vielleicht fällt’s mir deshalb ein.« Weil sie sich mit der Zeitverschiebung vertan hatte, erreichte ihn der Anruf von Stans ältester Tochter um fünf Uhr morgens. Im ersten Moment dachte Hartmut, es wäre Ruth mit schlechten Nachrichten über ihre Mutter. Sein Name habe auf einer Liste von Leuten gestanden, die ihr Vater umgehend verständigt haben wollte, sagte Claire. Der erste Schlaganfall einige Jahre zuvor hatte den alten Mann an den Rollstuhl gefesselt, der nächste brachte das Ende. Bis zur Trauerfeier blieben nur zwei Tage. Es war April, kurz nach Semesterbeginn, und trotzdem buchte Hartmut noch im Schlafanzug einen Flug. Fragte sich erst über dem Atlantik, ob er die Strapazen alleine Hurwitz’ wegen auf sich nahm.
»Während der Trauerfeier war ich beinahe zu müde, um traurig zu sein«, sagt er. »Es waren viele Leute da, auch bekannte Gesichter, aber ich hatte keine Lust auf Gesellschaft. Hab nur ein bisschen mit der Tochter geredet über Stans Besuch damals in Deutschland. Offenbar hat er danach alle Nachforschungen zu Joeys Tod eingestellt. Hat gesagt ›Ich hatte ein gutes Leben‹ und nicht mehr von früher gesprochen. Claire wollte wissen, ob ich eine Erklärung dafür habe. Ich wusste nicht,
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