Fliehkräfte (German Edition)
die Anne im neonbeleuchteten Maschinenraum verbringen muss. Hartmut stellt sich hinter sie und legt ihr die Hände auf die Schultern.
»Schlimm?«, fragt er. Jedes Mal, wenn Anne ein Missgeschick passiert, wird sie auf unheimliche Weise zum Alter Ego ihrer Mutter. Macht einen weiteren Eintrag in das Verzeichnis von Nachlässigkeiten und Fehlern, das den roten Faden ihrer Biographie zu bilden scheint. Klaus mit seinen Stummelfingern radiert daran herum, klammert Einträge ein und streicht die Wiederholungen heraus und erreicht am Ende gar nichts. Seit Kreta redet Anne anders über ihn. Unduldsamer. Auf vertrackte Weise ist er derjenige, der sie am besten versteht und ihr am wenigsten helfen kann.
»Sag schon.« Er massiert ihre Schultern. Draußen beginnt es zu schneien. Minneapolis-Wetter.
»Ein kleiner Tippfehler bei der Eingabe, und schon ist bei diesem SPSS alles im Arsch.«
»So was kann vorkommen. Es mag ärgerlich sein und Zeit kosten, aber es ist nicht schlimm.«
»Für dich nicht. Es ist der dritte Fehler im selben Job.«
»Schau«, sagt er, »es schneit.« Der Schneefall wird schnell dichter, und weil Anne nicht hinsehen will, nimmt er ihr Gesicht in beide Hände und dreht es zum Fenster. »Wann bist du zum letzten Mal Schlitten gefahren?«
»Im Dezember fünfundsiebzig.«
»Das weiß du so genau?«
»Wir waren über Weihnachten im Harz, mit Kollegen von Klaus. Irgendwo auf der westdeutschen Seite. Am zweiten Feiertag sind wir rodeln gegangen, Klaus und ich saßen auf einem Schlitten, bis ein Loch im Boden uns aus der Bahn geworfen hat. Wir lagen im Schnee, haben uns angeschaut, und Klaus sagte: Heirate mich, Anne. Sechsundzwanzigster Dezember neunzehnhundertfünfundsiebzig.«
»Lass uns essen gehen.«
»Ich hab keinen Hunger.«
»Lass uns trotzdem essen gehen.«
»Du merkst es gar nicht, oder?«
Hartmut sieht Schneeflocken an den Fenstern entlangstreichen und wünscht, er wäre alleine mittagessen gegangen. Nach draußen sehen und nicht reden müssen. Natürlich merkt er es. Warum sonst würde er krampfhaft versuchen, es zu ignorieren?
»Ich wusste, dass es passieren würde«, sagt sie. »Wahrscheinlich wusste ich es, als du zum ersten Mal in mein Büro gekommen bist. Ich kann nicht einem Menschen so nahe sein, ohne mich zu verlieben.«
»Du konntest es mit dem Kollegen von Klaus.«
»Der hatte eine Glatze und hat Herman van Veen gehört. Außerdem war ich ihm nicht nah, ich hab nie eine Nacht bei ihm verbracht.«
Eine Weile blicken sie schweigend vor sich hin. Seit sechs Monaten führen sie diesen Lückenbüßer von einer Beziehung, haben beide ein schlechtes Gewissen, ohne es voreinander zuzugeben, und scheinen darauf zu warten, dass die Sache von sich aus an ein Ende kommt. Er jedenfalls wartet.
»Ich weiß nicht, wie lange ich so weitermachen kann«, sagt Anne. »Warum bin ich noch mit Klaus verheiratet, wenn ich dich liebe? Warum bist du mit mir zusammen, wenn du mich nicht liebst? Warum promoviere ich, wenn das Letzte, was ich will, eine akademische Karriere ist? Gibt es irgendwas in meinem Leben, das einen Sinn ergibt?«
»Du liebst deinen Mann. Du hast es oft gesagt.«
»Die Psychotherapie in der gottverdammten Sowjetunion, das ist alles, worüber wir sprechen. Wusstest du, dass die simplifizierende Pawlow’sche Neurosenlehre schon seit den Sechzigerjahren ihre Monopolstellung verloren hat?« Ihre Stimme wird hart und bitter.
»Anne.«
»Und dass sie überhaupt ein Erbe der deutschen Psychiatriegewesen ist, was häufig übersehen wird. Sehr häufig sogar. Außer meinem Mann übersehen es eigentlich alle.«
»Anne, nimm’s mir nicht übel, aber ... hast du deine Tage?«
Mit zusammengepressten Lippen sieht sie ihn an. Ihre Miene erinnert ihn an das, was er früher Ruths Heulsusengesicht genannt hat.
»Schön, wenn’s nur Tage wären«, sagt sie. »Es ist aber mein Leben.«
Darauf erwidert er nichts, sondern schiebt ein paar Karteikästen zur Seite und setzt sich auf die Tischkante. In manchen Momenten betrachtet er sie mit einer Kälte, die ihn selbst erschreckt. Lacht innerlich über die grotesken Grimassen ihrer Ekstase, will nichts hören von den ständigen Klagen über ihre Mutter, verachtet die ganze mimosenhafte Empfindsamkeit, die sich in bebenden Schultern und feuchten Augen äußert. Immer häufiger fühlt er sich im Bett wie bei den einsamen Runden, die er früher um den Arnauer Sportplatz gedreht hat. Noch eine und noch eine, in der Verfolgung keines anderen
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