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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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arbeitsintensive Teil der Woche liegt hinter ihm, und der Chef ist nicht im Haus. Vor seiner Bürotür hält Hartmut den Seminarordner und eine leere Kaffeetasse in der rechten Hand und sucht mit der linken nach dem Schlüsselbund, als hinter ihm eine rauchige Stimme »Hi« sagt.
    Er dreht sich um.
    Sie heißt Tereza und arbeitet am Lateinamerika-Institut der FU. Zwei Mal in der Woche kommt sie zum Ernst-Reuter-Platz, um an einem Tutorium über Ernesto Cardenal mitzuwirken. Zusammen mit anderen Assistenten sind sie und Hartmut ein paar Mal Mittagessen gegangen, und bei einer dieser Gelegenheiten hat sie ihn auf energische Art davon zu überzeugen versucht, dass das Neue Testament eine dem Marxismusnahestehende Soziallehre beinhalte. »Und du sagst jetzt nicht einfach ›Ostblock‹, sondern hörst mir zu, mi niño.« Auf der Geburtstagsfeier seines Kollegen Dietmar Jacobs hat er sie tanzen sehen, und dieser Anblick ist ihm noch besser im Gedächtnis geblieben als ihre Argumente für den Proto-Marxismus der Bergpredigt. Sie ist klein und drall, mit schmaler Taille, breiten Hüften und großen Brüsten. Die dunklen Locken werden von Haarbändern zurückgehalten, und an den Ohren hängen komplexe Gebilde, die ihre Rede mit leisen Geräuschen untermalen. Als sie einander gegenüberstehen, trifft ihn der Blick aus ihren schwarzen Augen, nicht auf der Höhe des Gesichts, sondern als suchte sie nach Flecken auf seinem Hemdkragen.
    »Hallo«, sagt er. »Schon gegessen?«
    »Neulich hab ich mit einer Freundin über deinen Schal gesprochen. Wo kriegt man so was?«
    Gemeinsam werfen sie einen Blick auf den dunklen Kaschmirstoff.
    »KaDeWe.«
    »Du bist ein Snob«, stellt sie zufrieden fest. »Darf ich mal?«
    Bevor er antworten kann, greift sie nach dem Schal, und er muss den Kopf nach vorne neigen wie ein Sportler bei der Siegerehrung. Er riecht Shampoo und einen Hauch Tabak.
    Schnuppernd drückt sie ihre Nase in den Stoff, bevor sie ihn sich umhängt und ein Ende über die Schulter schwingt. Das vordere Ende liegt zwischen ihren Brüsten. Steht dir gut, will er sagen, aber sie kommt ihm zuvor.
    »Nächste Woche Samstag feiern wir das Diplom meiner Freundin. Sagt man das so? Wir feiern das Diplom?«
    »Eigentlich feiert ihr ja die Freundin, aber man kann es so sagen.«
    »Nicht ihr, wir. Du auch, wenn du willst. Du bist eingeladen.«
    »Danke.«
    »Danke was?«
    »Für die Einladung.«
    »Aber kommst du auch?«
    »Ja, klar.«
    »Erst bei uns in der Wohnung. Und später mal sehen.«
    »Vielen Dank.«
    »Hast du schon gesagt. Du bist ein höflicher Snob. Aber nach der Revolution ist Schluss mit dem Luxus, okay?« Sie legt den Schal wieder um seinen Nacken und streicht ihn mit den Händen glatt. Dann teilt sie ihm ihre Adresse mit und geht zurück Richtung Aufzug, und Hartmut sieht ihr nach und erwägt verschiedene Möglichkeiten der Nachmittagsgestaltung. Soll er Bücher kaufen oder das Geld lieber in ein neues Kleidungsstück investieren, das Tereza zu weiteren koketten Gesten animiert? Schließlich schlendert er hinüber ins andere Büro, wo eine Kollegin ihn daran erinnert, dass Anne donnerstags ihren Maschinentag hat und sich im Institut für Soziologie aufhält. Also zieht er seine Winterjacke an und geht rüber in die Franklinstraße.
    Die Luft ist kalt und riecht nach Schnee. Auf dem Kanal unter der Marchbrücke ziehen Enten über das Wasser, schnattern und kippen vornüber auf der Suche nach Futter. Die kurze Begegnung mit Tereza hat ihn beschwingt, wovon er Anne profitieren lassen will, er weiß selbst noch nicht wie. Auf jeden Fall, ohne ihr den Grund seiner guten Stimmung zu verraten.
    Im zweiten Stock findet er sie kauernd vor dem Lochkartenstanzer und merkt erst beim Näherkommen, dass sie sich nicht konzentriert über ihre Arbeit beugt, sondern weinend das Gesicht in die Hände gräbt. Neben ihr liegt ein Stapel Karten mit den an Blindenschrift erinnernden Codierungen. Für ihren Doktorvater muss Anne manuell ausgefüllte Fragebögen auf Lochkarten übertragen und ist jedes Mal überzeugt, dass ihr entweder bei der Codierung oder bei der Befehlseingabe ein Fehler unterlaufen wird, der den gesamten Job ruiniert – was nicht selten geschieht. Stundenlange Arbeit, die sich als vergebens erweist, wenn die Maschine statt der gewünschten Analyse eine trockene Fehlermeldung ausspuckt. Professor Kreutzreagiert zwar verständnisvoll, aber den Fehler zu korrigieren und den Job zu wiederholen dauert viele weitere Stunden,

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