Fliehkräfte (German Edition)
Zuneigung.
»Möchtest du auch was trinken?«
»Mein Glas steht in der Küche.« Wieder verschwindet sie nach draußen und lässt Hartmut zurück in der Gesellschaft ihres Mannes. In den Regalen herrscht sorgfältig gewahrte Unordnung, stehen die Bücher mal gestapelt, mal aufgereiht, und auf dem Boden liegen Schallplatten in ihren weißen Innenhüllen. Zuerst glaubt Hartmut, sich zu verhören, aber auf dem Saxophon im Hintergrund spielt Jan Garbarek, Going Places , kein Zweifel. Ist das Zufall oder verbindet Klaus und ihn eine gemeinsame musikalische Vorliebe? Anne jedenfalls hat nie erwähnt, dass sie Jazz mag.
»Philosophie!«, ruft sein Gastgeber unvermittelt, als würde er gespannten Zuhörern die Ankunft einer bedeutenden Persönlichkeit verkünden. »Hat mich immer interessiert. Allerdings die amerikanische Variante etwas weniger. Da hab ich den Eindruck, man weicht den eigentlich wichtigen Fragen aus und flüchtet in die ... delikaten Verästelungen der Irrelevanz.« Das kurze Zögern verrät, dass er sich die Formulierung für den Anlass zurechtgelegt hat. Hartmut kostet den ersten Sherry seines Lebens, findet ihn trinkbar und verzichtet vorerst auf eine Antwort.
»Ich meine, gibt es in der gesamten analytischen Philosophie so etwas wie Transzendenz? Einen Begriff von einer anderen Realität oder wenigstens den Raum, in dem ein solcher Begriff sich entfalten könnte?«
»Transzendenz?«
»Historisch. Wie bei Marcuse.«
»Ich kann nichts politisch Verwerfliches an dem Bemühen finden, die Realität zu verstehen, wie sie ist.«
»Aber kann ich sie verstehen, ohne zu ihr Stellung zu beziehen? Und kann ich Stellung beziehen, ohne einen Begriff von Alternativen zu haben? Denn sie ist ja nicht, wie sie ist, sondern wurde so gemacht. Vielleicht könnte man sie besser machen.«
Hartmut horcht Richtung Küche, aber da blubbert nur ein Kessel mit Klößen vor sich hin.
»Anne hat mich vor dir gewarnt«, sagt er.
Klaus stellt das Glas auf einem niedrigen Tisch ab, bevor er sich lachend auf den Oberschenkel schlägt. Er besitzt Humor, aber dessen Zentrum scheint nicht im Innersten seiner Person zu liegen, sondern irgendwo in den Randbereichen, weshalb die Anweisung, herzlich zu lachen, einen Augenblick lang unterwegs ist, ehe sie gewissenhaft ausgeführt wird. Dann ist das erledigt, und er wird wieder ernst.
»In zehn Jahren wird kein Mensch mehr die Frage verstehen, die ich gerade gestellt habe. Das ist das eigentliche Verhängnis.«
»Schon?«, fragt Anne von der Tür aus.
»Schon was?«
»Bist du so schnell übergegangen zur Lage der Welt und der Dinge?«
»Der Prophet gilt nichts im eigenen Land«, sagt Klaus in Hartmuts Richtung. Er hat sich auf einen Stuhl gesetzt, trägt immer noch seine Schürze und stützt beide Hände auf die Knie, als wolle er gleich aufspringen und die Revolution ausrufen. Hartmut kann sich nicht entscheiden, ob er Zu- oder Abneigung empfindet, Achtung oder Mitleid. Statt den Sturm auf die Bastille anzuführen, fragt Klaus nach dem Zustand der Klöße, und als Anne den Kopf schüttelt, erhebt er sich schwerfällig von seinem Platz.
»Dann muss der Präsident selbst nachschauen.« In der Tür bleibt er kurz stehen, küsst seine Frau auf die Wange und geht weiter. Den Kuss nimmt Hartmut sich vor, bei nächster Gelegenheit seiner Schwester zu beschreiben – genau die unbeholfene Geste, mit der sein Vater sich an Weihnachten bei seiner Frau bedankt, nachdem er den üblichen Strickpullunder ausgepackt, sich an die Schultern gehalten und gesagt hat: Passen tut er.
»Ist es sehr schlimm für dich?«, fragt Anne. Sie sieht unendlich traurig aus dort im Türrahmen.
»Nein.«
»Er ist nervöser, als er zugeben will.«
»Den Eindruck macht er nicht. Du siehst nervös aus.«
»Ich bin immer nervös. Wer weiß, wann meine Mutter anruft.« Sie kommt auf ihn zu, küsst ihn mit halb offenen Lippen, und ihm ist, als würde sie tief im Innern zittern vor Kälte oder Verlangen. »Kann ich nachher mit zu dir kommen?«
»Wir können nicht zusammen von hier verschwinden und ihn den Abwasch machen lassen.«
»Sag, dass ich dir nicht egal bin.« Sie drängt sich an ihn, und nach einem Blick zur Tür legt er ihr einen Arm um die Taille. Sie zittert wirklich.
»Anne, was ist los mit dir?«
»Nichts. Ich bin bloß unglücklich.«
»Kann es sein, dass du einfach ...« Er zuckt mit den Schultern. Unglücklich. Warum immer die ganz großen Worte?
»Dass ich einfach was?« Sie legt den Kopf
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