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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Szenarien des Gelingens und Scheiterns entwerfen. Er wundert sich, wie leicht Tereza es geschafft hat, ein Zimmer im Haus seiner Tagträume zu beziehen. Dort erwartet sie ihn, aber wenn er sich zu ihr stehlen will, ist es nicht Anne, sondern Sandrine, der er die Tür ins Gesicht schlagen muss, bevor er Tereza aus den Kleidern hilft.
    Am Samstagabend um fünf vor sieben steigt er am Heidelberger Platz aus der U-Bahn und findet ohne Probleme den angewiesenen Eingang. Ein fünfstöckiges Gebäude mit Jugendstilfassade. Hier wohnen sie, die liebestolle Frau Saalbach und ihr toleranter Gatte, Mitbegründer des Therapeutenkollektivs Gegen-Warte e.V., das in seinen frühen Jahren mehrfach in Verfassungsschutzberichten aufgetaucht ist. Inzwischen haben die Mitglieder alle ihren Kassensitz.
    Die Gegensprechanlage bleibt stumm, aber das Summen des Türöffners antwortet so schnell, als habe jemand neben der Klingel Wache gestanden. Im Treppenhaus dämpft ein Bastbelag seine Schritte. Große hölzerne Türen, hinter denen er gediegene Salons vermutet. Über sich hört Hartmut ein Klicken, und er hofft, es werde Anne alleine sein, die ihn an der Tür erwartet. Plötzlich freut er sich darauf, sie zu sehen.
    Sie steht in der Tür und sieht anders aus als sonst. Trägt Rock und Bluse und schaut ihm aus ihren großen Augen entgegen. Dankbar, ängstlich und froh.
    »Hallo«, sagt er. Es rührt ihn, dass sie ihn so schüchtern küsst, mit Lippen, auf denen er zum ersten Mal ein helles Rouge sieht.
    »Hallo.« Sie streckt die Hand aus und fährt ihm durch die kurzen Haare. Um die Zeit totzuschlagen, war er am Nachmittag beim Friseur.
    Sie nimmt seine Hand und zieht ihn in die Wohnung. Ein geräumiger Flur mit dunklen Bodendielen, in dem es schwer und würzig nach Braten riecht. Rechts und links führen Türen in hell erleuchtete Zimmer. Im Vorbeigehen fällt Hartmuts Blick auf volle Bücherregale, aber bevor er den Mantel ablegen kann, zieht Anne ihn weiter in die Küche. »So«, sagt sie mit einem Schulterzucken, als ihr Ehemann und ihr Liebhaber einander schließlich gegenüberstehen.
    Mit Schürze und aufgerollten Hemdsärmeln steht Klaus vor dem Herd. Ein stämmiger Mann, vollbärtig, bebrillt und mit Ansätzen von Geheimratsecken auf der Stirn.
    »Hartmut«, sagt er und macht zwei Schritte auf ihn zu. »Freut mich, dass wir uns kennenlernen.« Er sagt nicht ›endlichkennenlernen‹ oder ›schließlich doch noch kennenlernen‹, sondern schüttelt ihm kräftig die Hand, und Hartmuts Suche nach einem versteckten Vorbehalt, einem Anzeichen von Missgunst hinter der freundlichen Fassade bleibt ohne Ergebnis.
    »Freut mich auch«, erwidert er.
    »Ich bin gleich so weit. Oder nicht ich, der Kollege im Ofen.« Eine angenehm dunkle Stimme – Anne hat das erwähnt, und es fällt ihm sofort auf. Eine Stimme, die Vertrauen erweckt.
    Dunst hängt in der Küche und lässt die Fenster beschlagen. Auf dem Elektroherd steht ein riesiger Topf, aus dem Wasserdampf in die Abzugshaube strömt. Hartmut beginnt zu schwitzen, zieht den Mantel aus und steckt seinen Schal in die Ärmelöffnung. Mit dem Kleidungsstück in der Hand verschwindet Anne im Flur, und er muss dem Drang widerstehen, ihr aus der Tür zu folgen.
    »Womit fängst du an?«, fragt Klaus. »Sherry oder ein Glas Prosecco?«
    »Einen Sherry, warum nicht?«
    Klaus weist mit dem Finger aus der Tür Richtung Wohnzimmer. Als er vorangeht, fällt Hartmut auf, wie schwerfällig er sich bewegt, hüftsteif und als trage er zu kleine Schuhe. Dreiundvierzig oder vierundvierzig ist er, wirkt aber älter. Im Wohnzimmer steuert er auf einen Glasschrank zu, dessen Auswahl an Spirituosen es mit den Beständen einer Hotelbar aufnehmen könnte. Dutzende Flaschen mit bunten Etiketten, darüber eine nicht weniger beeindruckende Ansammlung von Gläsern, als stehe für jeden Inhalt eine eigene Form bereit. Anne sitzt an dem großen gedeckten Eichentisch und reibt sich die Unterarme. Hinter den Fenstern fällt Schnee in die Nacht, in den freien Raum über dem Heidelberger Platz. Es scheint nicht mehr aufhören zu wollen.
    »Sherry«, sagt Klaus und reicht ihm ein schlankes, langstieliges Glas. »Ich hoffe, du magst Sauerbraten. Den selten zubereiteten Schweine-Sauerbraten in diesem Fall.«
    »Sicher.«
    »Pepse sagt man im Rheinland dazu. Hab nie herausfinden können warum.«
    »Obwohl du es sicher versucht hast – es herauszufinden?«, sagt Anne, und Klaus schenkt ihr einen Blick voll väterlicher

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