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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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sie könne seine Gedanken lesen, ist derart beklemmend, dass Hartmut nur versuchen kann, gar nichts zu denken. Wieder einer dieser Momente der Wahrheit, in denen er nach Worten sucht und sie nicht findet. Sich verteidigen will und nicht weiß wie.
    Langsam schüttelt er den Kopf.
    Anne schließt die Tür.

6 Trotz des Altersunterschieds von fünfzehn Jahren hat er sich Bernhard Tauschner gegenüber nie als der Ältere gefühlt. Weder am Institut noch bei ihren geselligen Abenden am Rhein. Dass Bernhard ungeachtet seines Stilbewusstseins nichts auf Äußerlichkeiten gab, machte den Umgang leicht. Ebenso frei von Breugmanns Allüren wie von Herweghs Schrullen, ging es ihm um jenes Wesentliche, das eine abgewirtschaftete Philosophietradition als Essenz bezeichnet hatte. Wie radikal er dabei sein konnte, verstand Hartmut erst ganz am Ende, als Bernhard seine Juniorprofessur niederlegte, um in Südfrankreich ein Weinlokal zu eröffnen. Auf der Suche nach einer Lebensform im Einklang mit seinen eigenwilligen Überzeugungen. Ob sie in den zweieinhalb Jahren zuvor Freunde oder bloß gute Kollegen gewesen sind, gehört zu den Fragen, über die Hartmut an diesem Morgen aufs Neue nachdenkt. Auf dem Weg hinaus aus der Stadt.
    Das Navigationsgerät leitet ihn durch ein Gewirr von verstopften Ausfallstraßen zur A 10. Graue Wolken hängen über den einförmigen Betonschichten um das eigentliche Paris. Nach dem Abschied von Sandrine hat er schlecht geschlafen, wirr geträumt und heute Morgen im Hotel mehr Kaffee getrunken als sonst. Jetzt muss er auf die im Rückspiegel heranfliegenden Motorräder achten, die sich zwischen den dichten Fahrzeugkolonnen hindurchzwängen. Orléans und Tours lautet die Richtung, Mimizan ist das Ziel. In einer seiner letzten E-Mails hat Bernhard geschrieben, ›jemand wie Du‹ könne einen solchen Schritt wohl nicht nachvollziehen, aber er bereue ihn keineswegs. Wenn man unter Denken mehr verstehe als die sorgsame Verwaltung des bereits Gedachten, gehöre persönliche Konsequenz eben dazu. Ein typischer Tauschner-Satz, die Art von Äußerung, auf die Breugmann mit einem süffisanten ›Hört, hört‹ reagiert hatte, als Bernhard und er noch regelmäßig aneinandergerieten. Hartmut solle ihm jederzeit willkommen sein im neuen Domizil, schrieb er außerdem. Seitdem sind drei Jahre vergangen, in denen Hartmut gelegentlich daran gedacht hat, den Kontakt wieder aufzunehmen und Bernhard zu fragen, was genau er mit ›jemand wie Du‹ gemeint habe. Weil Ruhe im Büro aber zu einer Sache von Minuten geworden ist, blieb die Frage unbeantwortet. Ein Argument in Bernhards Sinn: Was ist zu erreichen an einem Arbeitsplatz, wo das eigentlich Wichtige untergeht im Ansturm des momentan Dringenden?
    Obwohl sein Rücken schmerzt von der Nacht auf einer zu weichen Matratze, fühlt Hartmut sich aufgekratzt und voller Energie. Die letzten grauen Wohnblocks bleiben zurück, und der Verkehr beginnt dreispurig zu fließen. Schneller als erwartet liegt Paris hinter ihm. Vor zwei Tagen hat er verkatert am Steuer gesessen und auf die schmalen Autobahnen von Belgien geschaut, jetzt stellt sich die angenehme Eintönigkeit wirklichen Reisens ein. Die Landschaft besteht aus abgeernteten Feldern und kleinen Waldstücken, so flach und offen, dass der Horizont darin zu verschwinden scheint. Kurz hinter Orléans rät die Frauenstimme seines Navigationsgeräts: »Folgen Sie dieser Straße noch sehr lange«, und Hartmut sagt »Okay« und legt eine neue CD ein. Die Wolkendecke wird dünner und das Licht heller. Hinweistafeln auf berühmte Bauwerke säumen die Strecke, der französische Überfluss an Kulturgütern, die seinem Blick verborgen bleiben. Bernhard wird Augen machen. Während Hartmut auf der mittleren Spur nach Süden rollt, trommeln seine Fingerspitzen den Takt der Musik aufs Lenkrad. Hättestdu nicht gedacht, hört er sich sagen. Ziemlich spontan für jemanden wie mich.
    Wie grundlegend die Universitäten sich damals zu wandeln begannen, ist ihm lange Zeit nicht aufgefallen. Im Rückblick findet er das schwer verständlich, aber mit Bernhards Berufung hatte sich vor allem die Atmosphäre am Institut verändert, und zwar zum Positiven. Da ihre Büros nebeneinander lagen, ergab es sich zwanglos, dass sie zusammen in die Mensa gingen und die dort begonnenen Debatten im Flur fortsetzten. Mit dampfenden Kaffeetassen in der Hand, zwischen Tür und Angel. Bernhard Tauschner war ein leidenschaftlicher Diskutant, der gerne

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