Fliehkräfte (German Edition)
Knopf.
»Hallo.«
»Hallo. Ich dachte schon, du bist nicht zu sprechen. Wobei störe ich dich?«
In der Leitung rauscht es, aber das ruhige Timbre von Marias Stimme lässt auch ihn augenblicklich ruhiger werden. Über dem Zeitschriftenregal steht in bunten Lettern das Wort Évasion.
»Bei nichts«, antwortet er. »Einer Tasse Kaffee und der Frage, was meine Frau gerade macht. Schön, dass du anrufst.«
»Ich hab heute so viel Kaffee getrunken, mein Herz macht komische Sprünge.«
»Stress in Kopenhagen?«
»Eigentlich wär’s mir lieber, du würdest erzählen. Hier ist es unerfreulich.« Sie seufzt, aber dann berichtet sie doch, von Problemen mit dem Bühnenbild und ständigen Querelen um die Probenzeiten. Es ist ein internationales Festival anlässlich derEinweihung des neuen Theaterhauses, und natürlich will jedes Ensemble mindestens ein Mal auf der großen Bühne proben. Falk Merlinger scheint allerdings zu glauben, dass seiner Truppe eine Bevorzugung gebührt, und Maria gibt zu, sich manchmal für sein Auftreten zu schämen. Hartmut hört zu. Bevor das Telefon zum meistbenutzten Kanal ihrer ehelichen Kommunikation wurde, hat er ausgesprochen gerne mit seiner Frau telefoniert. Ihre Stimme klingt gut so nah an seinem Ohr. Sexy, um genau zu sein. Ein einziges Mal, und ohne es ihr hinterher zu gestehen, hat er im Zimmer eines Tagungshotels onaniert, während Maria von ihrem Tag berichtete. Jetzt überlegt er, ob die Hintergrundgeräusche seinen Aufenthaltsort verraten, aber Maria scheint nichts zu bemerken. Vielleicht vermutet sie ihn in der Bonner Mensa.
»Ich wünschte, du wärst hier«, schließt sie, bevor er auf das Thema Merlinger anspringen kann. »Ich mag es nicht, alleine im Hotel zu schlafen. Wenn dich nichts Dringendes in Bonn hält, könntest du spontan einfliegen.«
»Um im Hotelzimmer auf dich zu warten?«
»Mir würde das gefallen.«
»Was mache ich den ganzen Tag?«
»Bring Arbeit mit. Am besten eine schlechte Hausarbeit, aus der du mir abends vorlesen kannst.«
»Apropos: Dein Freund Charles Lin hat seine Dissertation abgegeben.«
»Mein Freund Charles Lin«, lacht sie. »Auf Deutsch?«
»Sino-Deutsch. Konfuzianisches Denker-Esperanto. Der internationale Jargon der akademischen Legasthenie.« Der unerwartete Anruf hat ihn aufgeschreckt, aber schon nach wenigen Minuten glaubt er, dass nichts als ein Gespräch mit seiner Frau dem Moment zur Vollkommenheit gefehlt habe. Soweit die steife Rückenlehne es erlaubt, lehnt Hartmut sich auf seinem Stuhl zurück, streckt die Füße unter den Tisch und genießt das Wissen, von Maria vermisst zu werden.
»Philosophen aller Länder, vereinigt euch und promoviertbei Hartmut Hainbach«, sagt er. »Ich bin wie die AOK, ich muss jeden nehmen.«
»Du klingst nicht genervt.«
»Ich werde altersmilde. Wo bist du gerade?«
»Ich stehe vor diesem riesigen neuen Theater in der Sonne und rauche meine erste Zigarette. Von der Stadt hab ich noch nicht viel gesehen, aber sie scheint schön zu sein. Sollten wir uns mal vornehmen: eine Nacht in Hamburg, ein Wochenende in Kopenhagen. Oh, und ist die Rechnung von meiner Frauenärztin gekommen?«
»Ja«, sagt er aufs Geratewohl. »Glaub schon.«
»Leg die zur Seite, da will ich erst nachschauen. Beim letzten Mal hat sie zu viel abgerechnet.«
»Okay.« Mit der freien Hand greift er nach den Blättern einiger künstlicher Blumen auf der Fensterbank. Fühlt Plastik zwischen Daumen und Zeigefinger und denkt an Sandrines Befremden, als er ihr den Strauß überreicht hat. Wieso war ihm nicht selbst klar, dass Blumen das falsche Mitbringsel sind?
»Ich hab das Gefühl, wir hätten uns schon sehr lange nicht gesehen«, sagt Maria. »Länger als eine Woche.«
»Geht mir immer so. Wie war eigentlich dein Essen neulich mit Peter Karow?«
»Nett.« Sie atmet Zigarettenrauch aus, ein leises Rauschen im Hörer. Dann entsteht eine Pause, als wüsste Maria genau, dass die Frage nicht so beiläufig gemeint war, wie er sie hat klingen lassen. Hinter der Theke verharrt die schwarze Frau vollkommen reglos, in der linken Hand einen Teller, aber vor sich keinen Kunden, den sie bedienen könnte. Ihr Blick ist zum Eingang gerichtet, durch den schubsend und drängelnd einige Jugendliche kommen. Soll er nachhaken und fragen, worüber Maria und Peter gesprochen haben?
»Ich soll dich natürlich grüßen«, kommt sie ihm zuvor. »Erinnerst du dich noch, wie du ihn zum ersten Mal getroffen hast? An das Buch, das ich ihm mitgebracht
Weitere Kostenlose Bücher