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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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nach hinten und funkelt ihn an. »Läufig bin? Mal wieder richtig rangenommen werden muss?«
    »Du lässt mich nicht ausreden.«
    »Sprich.«
    Aber er weiß nicht, was er sagen wollte. Er hat lediglich diese Unterhaltung nicht führen wollen, während im Nebenzimmer ihr Mann seinen rheinischen Sauerbraten zubereitet. Die seltene Schweine-Variante. In was für eine Situation ist er geraten? Er liebt eine Frau, von deren Existenz Anne nie gehört hat. Deren immer seltener eintreffende Briefe er in Schubladen versteckt, damit er nicht Farbe bekennen muss. Aber warum? Hat er Angst, dass Anne seine Gefühle nicht verstehen würde oder dass er sie nicht erklären kann?
    »Du wolltest das tatsächlich sagen.« Sie schüttelt den Kopfund kämpft mit den Tränen. »Denkst du, es geht mir nur ums Ficken? Verstehst du überhaupt nicht, was los ist? Und was bin ich für dich – ein Loch?«
    »Fürs Protokoll: Ich wollte das nicht sagen. Und ich weiß nicht, ob es eine gute Idee war, heute hierherzukommen.«
    Abrupt wendet sie sich ab, nimmt ihr Glas vom Tisch und leert es in einem Zug. Da ihm nichts Besseres einfällt, tut er es ihr nach. Dann schweigen sie. Jan Garbareks Saxophon wird immer ungeduldiger, und draußen schneit es, als habe auch der Himmel genug von dem jämmerlichen Schauspiel, das unter ihm aufgeführt wird.
    Der Sauerbraten allerdings schmeckt köstlich. Seine zarten Fasern haben in sich eingesogen, was Klaus als Zutaten der Beize aufzählt, in der das Fleisch zwei Tage lang gelegen hat: Wacholderbeeren, Lorbeerblätter, Gewürznelken, Pfeffer- und Senfkörner. Und in der Sauce Wein, Rosinen, Rübenkraut und Aachener Printen. Hartmut erinnert sich, dass Anne ihren Mann den unsinnlichsten Menschen der Welt genannt hat, und tatsächlich scheint die schiere Fülle der Zutaten ihn mehr zu erfreuen als das Ergebnis seiner Kochkunst. Zum Braten gibt es schweren Rotwein und ein Gespräch über die Situation im Iran. Über ein Vierteljahr dauert die Besetzung der amerikanischen Botschaft schon, und Klaus sagt: »Jede Revolution, auch die reaktionäre, hält das Bewusstsein für die Möglichkeit der Veränderung wach. Das ist ihr progressiver Kern. Was ich vorhin zur analytischen Philosophie gesagt habe ...« Seine Messerspitze weist in Hartmuts Richtung.
    »Darf ich kurz was anderes sagen? Das sind die besten Klöße, die ich je gegessen habe.«
    »Dein Freund weicht mir aus.« Mit unerschütterlicher Gutmütigkeit wendet Klaus sich an seine Frau. »Du hast uns einen Liberalen ins Haus geholt. Aber gut, keine Gespräche mehr über Politik oder Philosophie. Ich schwöre.«
    Von da an verläuft der Abend angenehm. Noch vor dem Nachtisch geht die zweite Flasche Wein zur Neige, und Klausbeweist unerwartete Selbstironie, als er von den frühen Jahren seines Therapeutenkollektivs erzählt, der Theoriebesoffenheit, dem naiven Elan und der heilsamen Begegnung mit Patienten, die seinen Worten zufolge »vergleichsweise gesund waren. Aber das hatten wir ja zeigen wollen. Mir hat mal eine Frau gesagt, dass sie die Therapie gerne fortsetzen würde, allerdings unter der Bedingung, dass ich mich besser rasiere. Was ich auch gemacht habe, noch am selben Tag.«
    »Als ich dich kennengelernt habe, sahst du aus wie Martin Buber.« Anne hält sich die Hand auf Brusthöhe.
    »Ich war auch genauso erleuchtet. Was ist mit dir, Hartmut, hattest du nie einen Bart?«
    »In Amerika hab ich mich mal vier Wochen nicht rasiert, das war alles. Steht mir nicht.«
    »Noch Wein?«
    »Kleine Pause für mich.«
    »Du bist kein Trinker und kein Raucher, kleidest und rasierst dich gut – gar keine Sünden?«
    Einen Moment lang ist er versucht, auf sein Verhältnis mit einer verheirateten Frau hinzuweisen, dann sagt er: »Irgendwie assoziiere ich Bärte mit Geistlichen. In meiner Kindheit hab ich keinen Pfarrer ohne Bart gesehen. Warum eigentlich?«
    »Gute Frage. Ich assoziiere Bärte übrigens mit Männlichkeit. Komisch, was?«
    Es ist ein merkwürdiges Duell, das sie ausfechten und das Anne still beobachtet, während ihre Hände nicht aufhören, mit allem zu spielen, was ihr in die Finger gerät, Servietten, Messer oder der gläserne Salzstreuer. Sie ist die Einzige, die im Lauf des Abends nicht entspannter wird, auch nicht nach dem dritten Glas Wein.
    Als es auf zehn Uhr zugeht, beginnt Hartmut, an die Party bei Tereza zu denken. Der Rotwein macht ihn träge und unbekümmert. Sie sind einander noch zwei Mal im Telefunken-Hochhaus begegnet, und es

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