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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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gefällt ihm, dass Tereza immer eine flirtende Bemerkung auf den Lippen hat, ihn ›chico lindo‹ oderdergleichen nennt und keinen Hehl daraus macht, wie attraktiv sie ihn findet. Ob sie von seiner Beziehung zu Anne erfahren hat, weiß er nicht; falls ja, scheint sie darin kein Hindernis zu sehen.
    Zum Nachtisch gibt es Eis mit heißen Kirschen, und Hartmut wundert sich, dass Klaus als Zuckerkranker dieselbe Portion verdrückt wie er. Dann noch ein Glas Grappa, danach ist Hartmut angetrunken und will hinaus in den Schnee. Sein Gesicht glüht. Annes nackte Fußspitze umspielt seine Knöchel, während Klaus zu dem Ergebnis kommt, dass Jesus und die heiligen Männer der Kirche meist bärtig dargestellt werden und dass Pfarrer sich wohl daran orientieren. Schließlich senkt sich Stille über den Tisch. Die Platte ist abgelaufen, und Hartmut zieht seinen Fuß zurück, aus Angst, das sanfte Reiben von Annes Zehen werde hörbar. Einen Moment lang starren alle auf ihre leeren Teller.
    »Ich denke, ich geh dann mal.« Er muss sich anstrengen, die Wörter sauber voneinander zu trennen. »Bevor wir so einschneien, dass keine Bahn mehr fährt.«
    Im Flur gibt Klaus ihm die Hand und scheint die richtigen Worte zum Abschied nicht finden zu können. Dass es ihn sehr gefreut habe, bringt er hervor, und dass angesichts der Situation   ... Es sei für ihn wichtig zu wissen, dass ... Und für Anne sei es nicht leicht, aber ... Er zuckt mit den Schultern.
    »Ich hoffe, wir sehen uns öfter.«
    »Vielen Dank für das Essen.«
    »Aber irgendwann will ich eine Antwort von dir. Warum dieser Rückfall in kruden Positivismus?«
    »Weil man nicht immer Luftschlösser bauen kann. Man muss sich auch mal den Boden angucken«, sagt Hartmut und kommt sich albern vor. Wie ein Pennäler, der mit Worten jongliert, die er bei den Erwachsenen aufgeschnappt hat.
    »Reicht mir nicht. Komm gut nach Hause.« Klaus verschwindet in der Küche, und Hartmut steht mit Anne im Treppenhaus, wo es angenehm kühl und dunkel ist. Er will feiern,mehr trinken und mit Tereza schlafen. Lust kommt in ihm auf, nicht nur auf den Körper einer anderen Frau, sondern auf alles. Anfang dreißig ist er, und was hat er erlebt? Erst nichts, dann Langeweile und Einsamkeit, schließlich Sandrine. Die zankt lieber mit ihrem Betreuer, als endlich nach Berlin zu kommen, und er will nicht länger warten. Beinahe hätte er Anne bei den vor der Brust verschränkten Armen gepackt und sie kräftig geschüttelt. Schon gar nicht will er das Trostpflaster spielen für die Frau eines unsinnlichen, liebevollen Mannes, der zu fürsorglich ist, als dass sie ihn verlassen könnte, und zu kauzig, um es mit ihm auszuhalten. Er ist das Dauerbumsen leid, diese horizontalen Überstunden, die schon lange kein Abenteuer mehr sind. Lass mich in Ruhe!, will er brüllen, er wird wütend unter Annes schweigendem Blick, der ihn an seinen Fauxpas erinnern und klarstellen soll, dass sie die Verletzte ist und er der Missetäter. Draußen wartet die Stadt auf ihn, ein Ort voller Frauen und Verlockungen, und er muss jetzt dahin und endlich sein Leben leben!
    »Dann eben nicht«, sagt Anne und wendet sich Richtung Tür.
    »Du weißt genau, dass ich das nicht sagen wollte. Und es auch nicht gesagt habe.«
    »Ich weiß, dass es für dich Wichtigeres gibt als mein Unglück.« Wieder ein Satz, den sie von Ursula Saalbach geerbt hat, wie die großen Augen und die blasse Haut. Kein Wunder, dass der Vater seit zwanzig Jahren in Brasilien lebt. Wahrscheinlich gehört auch das Zusammenpressen der Lippen zum Familieninventar. Die Lippen pressen, und aus den Augen quillt es heraus, aber er ist in diesem Moment frei von dem Bedürfnis, sie zu trösten.
    »Wir reden ein andermal«, sagt er.
    »Wir haben noch nie geredet, und wahrscheinlich werden wir es nie tun. Ich bin dir unangenehm. Im Grunde tickst du wie die frommen Bauern in diesem Kaff, aus dem du kommst. Für dich bin ich bloß ein notgeiles Miststück. Bumsen, und dann nichts wie weg.«
    »Ich weiß nicht, warum du das jetzt sagen musst.«
    »Hör auf, dir was vorzumachen. Du tust verständnisvoll, aber du verstehst nichts. Manchmal guckst du mich an, als wäre ich behindert. Vielleicht bin ich nicht, wie ich sein soll. Glaubst du, dass du es bist?«
    Binnen weniger Sekunden wird aus dem Gefühl, weglaufen zu wollen, das Gefühl, rausgeschmissen worden zu sein. Tränen laufen über Annes Gesicht, aber darum kümmert sie sich nicht, sondern sieht ihn an. Der Eindruck,

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