Fliehkräfte (German Edition)
Das gilt weiterhin, ja?«
»Ja«, sagt er. »Unbedingt.«
»Und ich will, dass wir unser Leben anders einrichten. Ich weiß nicht wie, aber jedenfalls so, dass keiner von uns darunter zu leiden hat. Schaffen wir das?«
Zuerst denkt er, dass Peter Karow nicht dichtgehalten und ihr von dem Treffen im Verlag erzählt hat. Warum sonst sollte er die Eindrücke ihrer Begegnung vor über zwanzig Jahren hervorgeholt haben? Aber dann würde Maria nicht um den heißen Brei herumreden, sondern zur Möglichkeit seines Umzugs Stellung beziehen. Wüsste sie von Peters Angebot, würde sie entweder gar nichts sagen oder: Komm nach Berlin! Im ersten Moment fällt Hartmut nichts Besseres ein, als die Worte anlässlich ihres Umzugs zu zitieren: »Wir sind stark genug, wir schaffen das.«
»Hartmut, hab ich einen Fehler gemacht? Ich meine nicht, ob ich dir weh getan habe oder ob es schwierig für dich ist, mit der Situation umzugehen. Ich meine: Habe ich einen Fehler gemacht?«
»Soweit ich sehe keinen, der sich nicht korrigieren ließe. Wir finden einen Weg. Zusammen.«
»Versprich mir das.«
»Komm aus Kopenhagen zurück, und dann reden wir.« Auf einmal spürt er einen verdächtigen Druck hinter den Augäpfeln und muss zwei Mal schlucken, bevor er weitersprechen kann. »Gibt’s Neuigkeiten von unserer Tochter?«
»Die letzte Mail kam vor einer Woche, die mit dem Witz. Aber ich hab meine Post seit zwei Tagen nicht lesen können.«
»Ich werde mich bei ihr melden. Bestimmt hat sie einen Freund. Was meinst du?«
»Ich muss los, Hartmut. Pass auf dich auf, okay.«
»Du auch. Lass dich nicht zu sehr stressen vom großen Diktator.«
Noch einmal scheint Maria Luft zu holen, um etwas zu sagen, aber dann klickt es bloß, und die Verbindung ist unterbrochen.
Zögernd nimmt Hartmut das Handy vom Ohr. Obwohl er erst vor einer Viertelstunde auf dem Klo gewesen ist, muss er schon wieder. Außerdem spürt er ein Rumoren im Magen. Ihm gegenüber, auf der Titelseite von L’Équipe , ballt jemand triumphierend die Faust. Gedankenverloren reibt Hartmut sein Telefon über den aufgerollten Hemdsärmel und klappt es zusammen. Im Aufstehen leert er seine Kaffeetasse und tastet nach dem Autoschlüssel. Wasser muss er kaufen, tanken nicht. Nachdenken kann er auch unterwegs. Vor ihm liegt immer noch ein langer Weg.
Als Hartmut die Küste fast erreicht hat, beginnt die Sonne zu sinken. Flach und weit streckt sich das Land dem Meer entgegen. Seit Bordeaux hinter ihm liegt, glaubt er, den nahen Atlantik zu erahnen hinter dem nächsten Stück Pinienwald, rechts der meist pfeilgeraden N 10, aber zu sehen ist nur ein tiefblauer Himmel, der am Horizont auf weißen Wolkenbergen sitzt. Die Verspannung in seinen Schultern wird immer schmerzhafter, bis endlich die ersehnte Abzweigung nach Mimizan auftaucht. ›La fôret c’est la vie‹ verkünden Schilder entlang der schmalenLandstraße, auf der sein Navigationsgerät die letzten Kilometer herunterzählt. Der trockene Boden sieht aus wie aufgescheuert und macht die darunter liegende Sandschicht sichtbar. Hinter dem Ortsschild liegt ein schmuckes Städtchen mit gepflegten Gärten und einem durch Ladenzeilen definierten Zentrum. Daneben die obligatorische Kirche. Viel Grün wächst zwischen den Häusern, ein paar ältere Urlaubsgäste sitzen unter den weinroten Markisen des Hôtel du Centre. Erst einige Kilometer weiter, im maritimen Ableger Mimizan-Plage, wird Hartmut von der Geschäftigkeit eines Urlaubsortes in der Hochsaison empfangen. Böige Meeresluft und französische Wortfetzen wehen ihn an, als er gegenüber dem Tourismusbüro seinen Wagen abstellt und aussteigt.
Der kleine Ort liegt im Rücken einer langgezogenen Düne. Das Meer bleibt dahinter verborgen, Scharen von Strandbesuchern kommen Hartmut entgegen, als er sich zu Fuß auf den Weg macht. Die ersten Heimkehrer offenbar, die gerollte Sonnenschirme und Handtücher tragen, Schwimmtiere und müde Kinder. Überall in der sanft ansteigenden Fußgängerzone erklingt Musik, liegen auf Verkaufsständen bunte Waren aus und locken Terrassen die Urlaubsgäste an. Es riecht nach Kaffee und frischen Crêpes. Mit einer Miene, als wäre sein Umsatz ihm gleichgültig, verkauft ein Mann mit grauem Zopf Silberschmuck und tibetische Gebetsfahnen. Ein kleiner Junge beginnt zu weinen, weil seine volle Eiswaffel auf dem Boden liegt. Gute Laune und die kleinen Dramen des Alltags. Nicht mehr lange, bis die Restaurants sich zu füllen beginnen.
Auf halbem Weg
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