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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Summa promovieren, tun es bei besser beleumundeten Kollegen.«
    »Ich hab keine Ahnung, was diese Ausdrücke bedeuten sollen, und es spricht nicht für deinen Kandidaten, dass er Hegel wörtlich nimmt. Aber vielleicht stecken interessante Gedanken dahinter. Könnte sein oder auch nicht. Dir fehlt die Zeit, es herauszufinden. Du kannst ihn nur entweder durchwinken oder ihm ein Bein stellen.«
    »Sechs Jahre hat er an dem Text gearbeitet. In China lebt seine kleine Tochter, die er ein Mal im Jahr sieht. Außerdem schreibt er, als wären Satzzeichen nur auf dem Schwarzmarkt zu bekommen. Am liebsten würde ich ihn Breugmann unterjubeln, damit er mal sieht, womit andere sich herumschlagen.«
    Weil der Wein noch atmen muss in seinem bauchigen Dekantiergefäß, haben sie ein kühles Kronenbourg zwischengeschaltet. Hartmuts geheime Hoffnung war, dass Bernhard anbieten würde, ihm bei der Abfassung des Gutachtens zu helfen, aber darum bitten will er nicht. Entschlossen klappt er die Arbeit zu und lässt sie neben sich auf den Boden fallen.
    »Genug davon«, sagt er. »Ich bin in den Ferien.«
    Das Licht im Garten verändert sich weiter, bekommt einen Blaustich und wird schwächer. Mit der Bierflasche in der Hand sitzt Hartmut im Liegestuhl, fühlt Kondenswasser über seine Finger rinnen und wartet vergebens auf das wohlige Rapa-Gefühl, das ihn gestern in der Taverne überkommen hat. Die Muße langer Abende. Stattdessen fragt er sich, was Maria und Philippa gerade machen. In Kopenhagen steht die erste Aufführung an. Wann wird er seiner Frau endlich sagen, dass er imAusland unterwegs ist? Wenn er Philippa besuchen will, warum hat er ihr immer noch nicht geschrieben? Soll er weiterfahren oder doch lieber zurück? Am liebsten wäre er frei von der Notwendigkeit, irgendeine noch so nebensächliche Entscheidung zu treffen. Sich einfach treiben lassen, ohne Ziel und ohne Hast.
    »Vor einiger Zeit ist mir eine seltsame Geschichte passiert«, sagt Bernhard, als hätte er nur darauf gewartet, dass Hartmut aufhört, von seiner Arbeit zu sprechen. »Wollte ich dir gestern schon erzählen. Es war in dem Winter, bevor Géraldine und ich uns kennengelernt haben.«
    »Okay. Lass hören.«
    Bernhard zieht einen Stuhl zu sich heran und stellt ihn so, dass er seitlich zum Grill sitzen und seinen Gesprächspartner ansehen kann.
    »Letztes Jahr hatte ich das Haus noch nicht. Hab ganzjährig in der Wohnung über der Bar gewohnt, was im Sommer praktisch war. Im Winter kann es trostlos werden in Mimizan. Die Touristen sind weg, und in der Bar sitzen alte Männer, die Pastis trinken und über ihre Frauen klagen. Bevor ich Géraldine kannte, hab ich’s mir zur Angewohnheit gemacht, regelmäßig nach Bordeaux zu fahren. Bücher kaufen, in Cafés gehen, andere Gesichter sehen. Ab und an brauche ich fremde Menschen um mich herum, denen ich zuschauen kann, wie sie alltägliche Dinge tun: miteinander reden, streiten, essen. Ich denke immer, sie tun es anders als ich. Géraldine meint, das kommt davon, wenn man zu lange alleine lebt. Unter ständiger Selbstbeobachtung beginnt irgendwann bedeutsam auszusehen, was bei anderen leicht und beiläufig wirkt.«
    »Da hat sie recht.«
    »An dem Abend in Bordeaux hatte ich mich mit einem Grossisten getroffen. Hab ein paar Weine probiert und war auf dem Rückweg zum Hotel schon leicht angetrunken. Hässliches Wetter, Nieselregen. Es war Februar, ich war solo. Einer dieser Abende, an denen du denken willst, dass hinter der nächsten Straßenecke etwas auf dich wartet. Nicht etwas, jemand. Duschaust in die Bistros und Bars, siehst eine Frau alleine am Tisch sitzen und fragst dich, was dagegen spricht, dich zu ihr zu setzen. Gefragt hab ich mich das oft, aber getan hab ich’s noch nie. Ich wüsste nicht wie. Small Talk interessiert mich nicht, ich frage zu viel nach, bis die Leute anfangen, sich verhört zu fühlen.« Er unterbricht sich, greift nach der Karaffe mit dem Wein und schenkt zwei Gläser voll. »Das könnte einer von denen sein, die ich an dem Abend probiert habe. Mir schmeckt er gut. Zum Wohl.«
    »Zum Wohl.«
    Sie stoßen an und trinken. Im Dorf bricht eine größere Gesellschaft auf, mehrere Autotüren werden zugeschlagen, und Motoren springen an. Die Geräusche liegen eine Weile in der Luft, Fremdkörper in der abendlichen Stille. Bevor Hartmut den Wein loben kann, spricht Bernhard weiter.
    »Es war ein Donnerstagabend gegen elf Uhr. Nachdem ich an zwei Bistros vorbeigeschlichen war, bin ich ins

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