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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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abgesehen, bist du mein erster Gast. Willkommen!«
    Schwacher Lackgeruch mischt sich unter die abgestandene Luft. Im ersten Moment erkennt Hartmut nur Schemen. Frisch geschliffene Bodendielen verbreiten einen matten Schimmer, Ledermöbel haben sich wie schlafende Tiere um einen Holztisch versammelt. Dann öffnet Bernhard zwei Fensterläden undlässt Licht in einen offenen Wohnbereich, der fast das gesamte Erdgeschoss einnimmt. Kräftige Balken stützen die Decke. An den Wänden hängen keine Bilder, nur über dem Sofa zwei geschnitzte Masken.
    »Das Innere ist noch nicht fertig«, sagt Bernhard. »Ich richte mich nach und nach ein. Géraldine kennt einen guten Restaurateur für alte Möbel.«
    Unten befinden sich lediglich Küche und Bad, oben zwei Schlafzimmer und nach hinten gelegen ein Raum, den Bernhard als sein Studio bezeichnet. Durch mehrere Dachfenster fallen Sonnenstrahlen in den Flur und machen schwebende Staubkörner sichtbar. Bernhard lehnt gegen das Treppengeländer und zeigt mit dem Kinn auf die offene Tür des zweiten Schlafzimmers.
    »Bettwäsche liegt im Schrank. Ruh dich aus, hier oder auf der Terrasse. Vorher noch eins: An diesem Wochenende beginnt die Jagdsaison, das ist in Frankreich kein Spaß. Außer für die Jäger. Falls du vorhattest, einen Spaziergang zu machen.«
    »Hatte ich nicht.«
    »Schön. Dann fühl dich wie zu Hause.«
    Hartmuts Blick bleibt an dem getrockneten Lavendel hängen, der in Büscheln über dem Treppenabgang baumelt. In Bernhards Bonner Wohnung hatte es keine Pflanzen gegeben, nur Bücher und noch mehr Bücher. Eine sparsame, um nicht zu sagen spartanische Möblierung.
    »Die Antwort auf deine Frage lautet Ja.« Bernhard ist seinem Blick gefolgt und nickt.
    »Du hast noch nicht viel von euch erzählt. Kommt sie als Gast hierher oder lebt ihr zusammen?«
    »Im Moment überlegen wir, wo und wie wir zusammen leben könnten.«
    »Im Gegensatz zu deinen Zimmern in Poppelsdorf macht das Haus den Eindruck, als sollte es ein Zuhause werden.«
    »Könnte sein.« Bernhard sieht sich um, als suchte er nachHinweisen, die Hartmuts Behauptung bestätigen. Dann wendet er sich zum anderen Schlafzimmer und sagt: »Mach es wie ich. Leg dich eine Stunde hin. Wir haben das ganze Wochenende Zeit.«
    Am Abend mischt sich der Geruch von gegrilltem Fleisch unter die Sommerdüfte des Gartens. Die Sonne ist bereits untergegangen, aber der Himmel strahlt weiter in einem fernen Blau, durch das gelegentlich glitzernde Flugzeuge ziehen. Den Nachmittag hat Hartmut auf der Terrasse zugebracht, mit einem Glas Orangensaft und der Lektüre von Charles Lins Doktorarbeit. Angenehmer als das Wissen, nicht arbeiten zu müssen, ist nur, es trotzdem zu tun. Aus dem Dorf kamen wenige Geräusche. Ein Schwarm Tauben umflatterte den gedrungenen Kirchturm von Saint-Yaguen. Nachdem Bernhard seine Siesta beendet hatte, gönnten sie sich den ersten Aperitif. Saßen auf den Liegestühlen und sahen den allmählichen Veränderungen des Lichts zu. Spatzen hopsten wie kleine Derwische um eine im Gras liegende Frucht. Als sich der Hunger zurückmeldete, holten sie den Grill aus einem von Sträuchern umwucherten Schuppen, der bei der Renovierung übergangen worden sein musste. Zwischen bröckelnden Lehmwänden hing der Geruch von Hasenkot und ewigem Schatten. Verrostete Gartengeräte standen zwischen Autoreifen, durch die man mit dem bloßen Finger stechen konnte. Das Entfernen von Spinnweben und altem Fett hat eine halbe Stunde gedauert. Jetzt hantiert Bernhard mit einer riesigen Fleischzange und hört zu, wie Hartmut einen typischen Satz aus der Dissertation zitiert.
    »... wird schließlich die konfuzianische Moralsubstanz aufgehoben zu einer perfekten Syntheselehre in der nicht mehr eurozentrischen Lesart gemäß dem höchsten Prinzip von Daotong und Tradition.« Ratlos sieht er vom Text auf. »So geht das fünfhundert Seiten lang. Jede Behauptung ist gedeckt durch irgendwas, das ein weiser Mann des Altertums gesagt haben soll. Alles strebt nach oben und geht restlos auf, das häufigste Adjektiv ist›perfekt‹. Einen derart optimistischen Text habe ich noch nie gelesen. Ich weiß bloß nicht, was er sagen will.«
    »Gib ihm ein Magna«, sagt Bernhard ungerührt. Barfuß steht er vor dem Grill und trägt zur Cordhose ein verwaschenes grünes T-Shirt. Für seine Verhältnisse ein ungewöhnlich legeres Outfit.
    »Magna vergebe ich für ordentliche Arbeiten. An das letzte Summa kann ich mich kaum erinnern. Leute, die mit

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