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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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wollte immer rein.«
    »Vielleicht ist es dir entgangen, aber mindestens seit einem halben Leben bist du drin. Jetzt wäre es souverän zu sagen ›nein, danke‹ und dann wieder raus. Um dir den Schritt zu erleichtern, würde ich der Deutschen Bahn vorschlagen, einen ICE nach dir zu benennen. Mein Schwager arbeitet für den Laden.«
    »Wann bist du so ein Arschloch geworden?«, sagt Hartmut ohne Wut. »Sei ehrlich, du hast hingeschmissen, weil der Erfolg nicht deinem Anspruch genügt hat. Richtig? Du hättest dich mit Freuden korrumpieren lassen, wenn du mehr zurückbekommen hättest als verständnisloses Kopfschütteln. Stattdessen sitzt du in der Sonne, leckst deine Wunden und hältst das für die souveränere Lebensform.«
    »Lass uns über was anderes reden.« Bernhards Worte klingen verstimmt, aber seine Miene lässt davon nichts erkennen. »Ichhab meine Entscheidung getroffen, triff du deine. Zerbrich dir den Kopf und dann tu, was du für das Beste hältst. Okay?«
    »Das nenne ich mal einen guten Ratschlag.«
    Je weiter sie ins Land hinein fahren, desto kurvenreicher wird die Straße. Die Ortsnamen auf den vorbeitreibenden Schildern bekommen einen Klang, den Hartmut für baskisch hält, bis sein Beifahrer das Schweigen bricht und ihn aufklärt, dass er gaskognisch sei. Ein Bekannter in Mimizan, Linguist und Alkoholiker, komme gelegentlich in die Taverne und doziere über die verschiedenen Sprachen des französischen Südwestens. Als Hartmut der Abzweigung nach Mont-de-Marsan folgt, erfährt er, das Géraldine dort als Lehrerin arbeitet, geschieden ist und zwei Kinder hat. Außerdem erzählt Bernhard von einem Stierkampf in der Arena, dem er den bisher heftigsten Streit mit seiner tierliebenden Freundin verdankt. In der Mitte eines verschlafenen Dorfes halten sie an, und Hartmut bleibt sitzen, während sein Beifahrer in einem Spar-Markt verschwindet. Ein dickes Kind fährt Fahrrad, ansonsten ist niemand zu sehen und nichts zu hören. Durch die Windschutzscheibe betrachtet Hartmut die vertraute Formation: eine graue Kirche inmitten eines ungeteerten, von Platanen gesäumten Platzes. Das überall gleiche Zentrum der französischen Provinz. Die Vorstellung, hier zu leben, erscheint ihm weder verlockend noch unattraktiv, sondern bloß ... er bricht den Gedanken ab wie einen gesprochenen Satz. Nach zehn Minuten tritt Bernhard mit voll bepackten Armen aus dem Laden. Beim Einsteigen hält er Hartmut eine gefüllte Papiertüte entgegen.
    »Morgen kommt Géraldine und mit ihr die vegetarische Küche. Ich dachte, heute Abend nutzen wir die Chance und grillen.«
    »Sie kommt erst morgen?«
    »Heute besucht sie ihre Eltern. Da vorne links. Noch zehn Kilometer.«
    Die Landschaft ist nicht südlich üppig, auch nicht karg wie die Serra da Estrela. Hinter den Mischwäldern erwartet manoffene Ebenen und das blasse Relief der Pyrenäen, aber nie reicht der Blick frei und weit in die Ferne. Neben unbefestigten Straßenrändern grasen zottelige braune Pferde. Nach weiteren zehn Minuten rollen sie am Ortsschild von Saint-Yaguen vorbei. Das Rathaus neben der heruntergekommenen Kirche ist gerade groß genug für die Worte ›Liberté, Égalité, Fraternité‹ auf seiner Stirnseite. Auch hier zeigt sich am frühen Nachmittag keine Menschenseele auf der Straße. Vor dem einzigen Wirtshaus weist Bernhard nach links, und schon bewegen sie sich wieder aus dem in der Gegend verstreuten Ort hinaus. Auf großzügigen Grundstücken stehen teils verfallene, teils neu erbaute Häuser. Wo trockene Wiesen ins nächste Waldstück übergehen, biegen sie ein letztes Mal ab, dann erkennt Hartmut die Umrisse eines Gebäudes, das erst im Näherkommen Gestalt annimmt. Von Obstbäumen umgeben, steht es auf einer Erhöhung im Boden, mit schmalen hohen Fensterläden und einem roten Ziegeldach. Kein Zaun grenzt das Grundstück ein. Der Feldweg endet wie eine seit langem unbenutzte, von Vegetation überwucherte Bahntrasse.
    »Früher war es Teil eines größeren Gutshofs«, sagt Bernhard. »Vermutlich nur ein Nebengebäude. Der neue Besitzer hatte es gerade renoviert, als er pleiteging. Ich hab’s für die Hälfte seines tatsächlichen Wertes bekommen.«
    Beim Aussteigen riecht die Luft nach Lavendel. Bernhard geht voran und berichtet von Plänen, die vordere Terrasse um ein Holzgerüst zu ergänzen und von wildem Wein bewachsen zu lassen. Mit der Schulter stößt er die massive Haustür auf und lässt Hartmut eintreten.
    »Voilà. Von Géraldine

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