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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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weiterhin nicht dazuzugehören?«
    Unentschieden wiegt Hartmut den Kopf hin und her.
    »Als junger Professor in Bonn hatte ich Kollegen wie Hermann Grevenburg und Heinz-Ludger Riemann. Unglaublich elitäre Typen. Die sagten, sie seien ›zu Tisch‹, wenn sie sich mittags für zwei Stunden absentiert haben. Nicht in die Mensa natürlich, runter an den Rhein, vier Gänge und ein Viertel Weißwein, das entsprach ihrem Begriff von akademischer Kultiviertheit. Die haben in ihren letzten Jahren nichts mehr publiziert, außer in den Festschriften für geschätzte Kollegen. Aber ein C3-Prof, der kein Griechisch kann und von einer amerikanischen Uni kommt, die nicht Harvard heißt, das war der Untergang des Abendlandes. Ich würde sagen: beides gleich stark, bloß dass ich zu denen gar nicht gehören wollte. Riemann sagte immer ›Mini-apolis‹, mit einem verkniffenen Zwinkern, als hätte er was im Auge.« Hartmut schaltet einen Gang nach oben und zieht an einer Gruppe Radfahrer vorbei. Vier Männer in weißen Trikots und Helmen, über die Lenker gebeugt wie im Wettkampf. Kurz darauf zerfließen sie im Rückspiegel zu hellen Flecken am Straßenrand.
    »Das hast du dir zu Herzen genommen? Den Spott solcher Mumien?«
    »Ich hab sie gehasst. Richtig gehasst.« Zum Glück dauerte es nur drei Semester, bis Grevenburg emeritiert wurde undsein Kompagnon wegen gesundheitlicher Probleme kaum noch am Institut erschien. Ein Jahr später ging auch Riemann, und wenige Monate darauf war er tot. An Herzversagen gestorben kurz vor Erscheinen seiner eigenen Festschrift. »Dabei waren sie harmlos im Vergleich zu den Intrigen und Feindschaften, die es auch gab. Der linken Tour, die Dietmar Jacobs mit mir abgezogen hat. Den wirklich unerfreulichen Sachen.«
    »Jacobs war früher in Bonn?«
    »Immer in Berlin. Erst als Assistent an der TU, da haben wir uns kennengelernt. Später war er Privatdozent, und als nach der Wende eine Professur ausgeschrieben wurde, die ich hätte bekommen sollen, hat er in die Kiste mit den schmutzigen Tricks gegriffen. Bis heute weiß ich nicht genau, wie er das eingefädelt hat. Irgendwie muss es ihm gelungen sein, eine ehemalige Freundin von mir vor seinen Karren zu spannen. Spielt keine Rolle mehr. Er hat Maria und mich einander vorgestellt, das ist sein bleibendes Verdienst. Aber trotzdem. Heute Vormittag lag ich im Hotel auf dem Bett und hab an unser gestriges Gespräch gedacht. Eigentlich hätte ich Verwaltungsangestellter werden sollen, am Ende bin ich Professor geworden. Ich könnte stolz darauf sein, und ich bin stolz, aber außerdem würde ich gerne zufrieden sein, und das bin ich nicht. Verstehst du? Wenn es bloß Arbeit war, warum habe ich ihr alles andere untergeordnet? Und andererseits: Wenn ich so viel reingesteckt habe, kann ich jetzt einfach aussteigen?« Im Fahren wendet er den Kopf und begegnet Bernhards ratloser Miene. Er weiß nicht, nach welcher Antwort er sucht und wovon er sich überzeugen möchte. Es muss einfach raus. »Und du? Verpisst dich nach Südfrankreich und machst eine Bar auf. Was fällt dir ein? Wir hätten zusammen was auf die Beine stellen können in Bonn. Und wenn es nur gewesen wäre, was du vorhin gesagt hast, auf Berge steigen und Wein trinken. Malen kann ich nicht. Aber ich wäre nicht völlig alleine gewesen, das hätte einen großen Unterschied gemacht.«
    Bernhard dreht sich zur Seite, lehnt mit der Schulter gegendie Beifahrertür und schiebt die Sonnenbrille nach oben, um seinem Blick Eindringlichkeit zu verleihen.
    »Was ist eigentlich dein Problem?«, fragt er. »Du hast erreicht, was du erreichen wolltest, und an mehr nie geglaubt. Hast du jedenfalls gerade behauptet. Aber wenn es wirklich so wäre, würdest du nicht lange nachdenken, sondern deinen Hut nehmen.«
    Hartmut nickt. Was ihm auf der Zunge liegt, klingt wie die Zeile aus einem kitschigen Schlager. Abgeschmackt noch als ironisches Zitat, und dennoch tut es gut, die Worte auszusprechen: »Was bleibt, wenn ich nicht mehr bin.« In den Fahrtwind hinein, der durchs offene Seitenfenster ins Auto weht. »Das letzte Buch war ein Fehlschlag. Ich hab mich zu was hinreißen lassen und die Quittung bekommen. Aber dass ich schon am Ende sein soll? Gegen einen Wechsel hätte ich nichts einzuwenden, aber wenn es darauf hinausläuft, meinen Platz zu räumen ...«
    »Davon musst du dich frei machen, hörst du. Aus diesem Denken musst du raus.«
    »Das ist der Punkt. Anders als du war ich mein ganzes Leben lang draußen, ich

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