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Fließendes Land (German Edition)

Fließendes Land (German Edition)

Titel: Fließendes Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Overath
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und Ausrollen des Restteigs mußte wieder etwas Mehl hinzugefügt werden. Das machte den Teig spröder und minderte den Geschmack des Gebäcks. Meine Mutter hatte sehr schöne Hände, die mehr von ihrer Verletzlichkeit verrieten als ihr Blick.
    Der Heilige Abend folgte ihrer strengen Choreographie. Anzünden des Baumes, Singen, Auspacken der Geschenke, Gans, Christmette. Das alles war gefährlich. Würde der Vater den Baum gerade aufstellen können, würde er ihn richtig schmücken? (Mutter bestand auf einzeln gehängten Lamettafäden, eine Geduldsprobe, die den dünnen Fichtenzweigen weihnachtliche Würde gab.) Konnten wir auch dieses Mal das Singen in ritueller Ausführlichkeit durchhalten? (Mutter hatte einen wunderbaren Sopran, aber Vater traf die einfachsten Terzen nicht.) Freute man sich endlich deutlich genug über den Trainingsanzug, den selbstgestrickten Pullover mit Zopfmuster, die Strümpfe? Freute sie sich um Himmels Willen über die neue Kaffeemaschine, die Vater gekauft hatte? (Wenn es schlimm kam, weinte sie. Meist gingen wir ihr Geschenk nach Neujahr wieder umtauschen. Sie hatte zu genaue Vorstellungen, um sich überraschen lassen zu können.)
    War die gute Gans gelungen? Gelang es dem Vater, sie mit Geflügelschere und Messer richtig zu zerlegen? Wir griffen eilig zu und lobten. Am Teller mit den drei Apfelsinen (für jeden von uns eine) zeigte Mutter, daß sie uns für arm hielt. Wie groß hingegen der Reichtum, ihre Herrlichkeit, wenn sie eine kleine Schale mit einer Auswahl perfekten Gebäcks vor uns auf den schönen Tischläufer stellte, auf den sie einen Posaune blasenden Engel gestickt hatte. Wir brachen die Hildabrötchen.
    Einmal habe ich zu Weihnachten (man weiß ja selten, was man tut) für eine verehrte Dichterin Plätzchen gebacken. Ich benutzte die Formen meiner Mutter. Das Dreierle, die böhmische Lilie, die Glocke, den Stern. Ich kaufte noch einen kleinen Fuchs hinzu. Auf die goldbraunen Tiere tupfte ich mit der Spitze eines feinen Haarpinsels Augen aus schwarzer Schokolade. Auch die Pfoten erhielten eine Schokoladenkontur. Dann schichtete ich die Plätzchen in eine flache Schachtel aus nachtblauem Karton: eine Lage geknittertes Seidenpapier, eine Lage Gebäck, eine Lage Seidenpapier, Gebäck, Seidenpapier. Ich umschlang den Karton mit blauem Band.
    Seither sind viele Jahre vergangen.
    Meine Tochter, mit der ich Ausstecherle backe, drückt den Fuchs in den Teig und sagt: Vielleicht hast du die Plätzchen damals gar nicht abgeschickt.

II Fluten

Fließendes Land
    Es sollte einfach nur schön sein. Eine Winterferienwoche mit dem jüngsten Kind auf einer Insel: nach Würmern graben am Strand, den Möwen zusehen. Nichts tun. Vorsichtig hatte sie das Wort Wellness-Urlaub ausgesprochen. Sie war Reporterin; Reporter reisten nicht so. Aber sie war müde. Sie dachte an ein Hotel mit Sauna und Schwimmbad. Als die große Tochter davon hörte, erklärte sie, sie komme mit. Es waren ihre ersten Semesterferien. Sie studierte jetzt in einer fremden Stadt.
    Für Süddeutsche beginnt der Norden in Frankfurt. Duisburg ist eine andere Welt. Nach Arnheim waren die Zugdurchsagen Holländisch. Irgendwann Zwolle. Sie war mit dem Kleinen nun acht Stunden unterwegs, vier Stunden Bahnfahrt lagen noch vor ihnen. Sie hatte nicht fliegen wollen. Der Junge blieb munter. Er malte Punkt-Bilder nach Zahlen bis 150, Löwen erschienen unter Palmen, Piraten hingen in den Masten, Dromedare durchzogen Wüsten. In Leeuwarden würde Silvia zusteigen. Von Leeuwarden ging ein Schienenbus nach Harlingen Haven. Die letzte Fähre fuhr um 17.30 Uhr: nach Vlieland.
    Eine Freundin hatte ihr von Terschelling erzählt, und als sie über das Internet dort eine Unterkunft buchen wollte, waren Hotels erschienen, in deren Adresse das Wort »Vlieland« auftauchte. Vlieland ist ein Ortsteil von Terschelling hatte sie gedacht.
    Dann hatte sie eine Insel entdeckt.
    Die Tochter stieg nicht in Leeuwarden zu. Auch mit den folgenden Schienenbussen kam sie nicht in Harlingen Haven an. Möwen schrieen. Hölzerne Schiffe mit hohen Masten schaukelten vor putzigen Häuschen wie in historischen Bilderbüchern.
    Schafft sie es? fragte sie den Jungen.
    Ja, sagte er.
    Sie kauften sich Aniskekse, mit denen er die Möwen fütterte. Sie warteten den letzten Schienenbus ab. Dann kauften sie die zwei Fährenkarten für sich.
    Die Schiffsmotoren liefen. Über dem Meer begann jener Vorgang der Dämmerung, der für Menschen aus dem Mittelgebirge immer etwas

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