Fließendes Land (German Edition)
und quer schwimmen, ohne Altersbeschränkung. Sie liefen die Insel ab. Sie verliefen sich in den Dünen, in den Heidekrautfeldern der Kranichbeeren. Sie sahen den Leuchtturm nicht mehr und hatten am Strand die Himmelsrichtung verloren. Sie schliefen lang und hatten dauernd Hunger. Sie aßen Fische, Krebse, Krabben, Austern, Muscheln. Da sie Freundlichkeit als Schmuggelware erlebten, wurde jeder ihnen zugewandte Kellner zum Komplizen.
Der Junge bekam seinen ersten Drachen ( schwarz, mit Piratengesicht) und rannte und rannte und lernte, daß ein Drachen nur gegen den Wind steigt.
Die Zeit zog sich zurück. Die Stunden standen in den Sielen. Manchmal verschwand die Tochter in ihrem Zimmer im Internet; manchmal kam sie und las Andersenmärchen vor. Das Kind malte Mandalas aus. Abends, wenn es schlief, gingen sie beide in ein Cafe, in dem alte englische Lieder liefen.
Als sie wieder in der Fähre saßen, frühmorgens um 7.00 Uhr, es war noch dunkel, waren sie froh. Der Junge führte mehrere Kilo Kalk- und Chitin-Fragmente mit sich.
In Harlingen Haven schaukelten die Segelschiffe mit den hohen Masten im Morgenlicht.
In Leeuwarden stieg die Tochter in den anderen Zug.
Nach Arnhem waren die Durchsagen nur noch deutsch.
Seepferdchen
Es gab Tage, da hätte sie lieber Seepferdchenforscherin sein wollen. Sie saß dann vielleicht über Mittag auf einer der Bänke bei den Blumenrabatten im Geviert des Institutsgeländes. Reihen von silberdunklen Fensterrechtecken zogen über die grauen Fassaden der Hochhäuser als ein ebenmäßiges Muster. Scharfgeschnitten und schattenlos lag der Rasen da. Die wächsernen Petunien glänzten frischgezupft. Sie schaukelte dann vielleicht ein wenig mit den Beinen, so daß, freilich unbemerkt, ihre Fersen an den Parkbanksockel aus Waschbeton stießen. Es war heiß, und in der Luft lag der Ton von Grillen.
Seepferdchen hingegen, dachte sie dann und sog ein wenig Luft ein, Seepferdchen waren Tiere der Tiefe. Sie sah hinüber zu den Anlagenwegen, auf denen sich die kommenden und gehenden Besucher verschoben wie Statisten.
Wenn sie eine Seepferdchenforscherin wäre, würde sie mit dem Boot aufbrechen. Sie steckte dann in einem schwarzen Neopren-Taucheranzug mit Signalstreifen. Am Rücken trüge sie ein gelbes Sauerstoffgerät. Hinter einer Taucherbrille lägen ihre Augen wie eingelassen in einen verglasten Gummirahmen. Fischartig würde sie durch die Algenwälder tauchen mit langen Flossen, deren leuchtende Linien an der Unterseite bei jeder Bewegung aufblitzten. Und wahrscheinlich, das wußte sie nicht so genau, hätte sie eine Unterwasserkamera. Eine so teure Unterwasserkamera hätte sie natürlich nur, wenn sie eine sehr gute Seepferdchenforscherin wäre. Aber warum sollte sie denn keine sehr gute Seepferdchenforscherin sein?
In den Weltmeeren gab es, das wußte sie, 35 Arten von Seepferdchen, davon allerdings lebten nur zwei im Mittelmeer. Und erst vor drei Jahren hatten Seepferdchenforscher ein neues Seepferdchen entdeckt. Es war das bislang kleinste Seepferdchen von nur 16 Millimetern Länge (die größten konnten gut über 30 Zentimeter wachsen). Wenn sie Seepferdchenforscherin wäre, könnte es also durchaus sein, daß auch sie einmal ein Seepferdchen entdeckte. Und wenn sie eines entdeckt hätte, dürfte sie ihm einen Namen geben. Das war so bei Entdeckern. Manchmal dachte sie darüber nach, welchen Namen sie dem Seepferdchen geben würde, das sie vielleicht einmal entdeckte.
Das Seepferdchen war, was leicht übersehen wurde, ein ganz besonderes Tier. Es war kein Pferdchen, auch wenn Seepferdchenforscher manchmal von Ponys sprachen. Ein Seepferdchen war ein Fisch. Ein Fisch mit einem Kopf, der an den Kopf eines Pferdes erinnerte. »Fallada«, dachte sie, »O du Fallada, da du hangest«, und dann dachte sie, wie der Pferdekopf antwortete: »O du Jungfer Königin, da du gangest, wenn das deine Mutter wüßte, das Herz tät ihr zerspringen.« Ganz sacht begann sie mit dem Oberkörper zu schaukeln. Falladas sprechender Kopf, der im Märchen über dem finsteren Tor der Stadt hing, fiel ihr immer ein, wenn sie an Pferde dachte. Die Mutter hatte ihr die Geschichte viele Male vorgelesen. Und vielleicht hatte sie wegen Fallada nie so recht eine Pferdeleidenschaft entwickelt wie ihre Freundinnen in jenen verwirrten Tagen.
Mit den Seepferdchen war es etwas anderes.
Sie fand, daß Seepferdchen lächelten. Auch jetzt, wenn sie auf der Bank saß und ihre Fersen, ohne daß sie es bemerkte (aber
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