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Fließendes Land (German Edition)

Fließendes Land (German Edition)

Titel: Fließendes Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Overath
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ein sonntägliches Gesamtkunstwerk mit Priestern im Ornat, Reihen von Messknaben, Weihrauch, lateinischen Kadenzen, Kerzenschein, Orgel, Glocken- und Glöckchengeläut. Ich nahm das hin wie Natur (wie den rauschenden Stadtwald, die wogenden Tabakfelder). Im rituellen Niederknien, Aufstehen, Setzen, Niederknien, Aufstehen lebte die Gemeinde als ein enormer Körper im Kirchenschiff. Und dieser Körper sang.
    Ich verstand die Lieder nicht, aber ich liebte sie. Völlig schleierhaft etwa blieb mir, was das heißen sollte: »Tauet Himmel den Gerechten« oder »Meerstern ich dich grüße«. Aber das Bild von morgendlicher Gerechtigkeit auf den Wiesen fand ich schön. Und vermutlich lag im Wort »Meerstern« die erste Kinderidee von Freiheit.
    Mein Lieblingslied war »Wachet auf, ruft uns die Stimme«. Auch wenn ich, zumindest später, die entsprechende Passage aus dem Matthäus-Evangelium über das Erkennungswort »kluge Jungfrauen« dem Lied irgendwie zuordnen konnte, wußte ich lange nicht, um was es letztlich ging. Denn Bibelstelle und Lied schienen von zwei vollkommen verschiedenen Welten zu handeln. Dort dieses kleinliche Aufsparen. (Warum wurden die Jungfrauen klug genannt, nur weil sie das Öl für die Lampen zur Begrüßung des Bräutigams nicht mit denen teilen wollten, die keines dabei hatten?) Und auf der anderen Seite dieser herzzerreißende Jubel. Ich liebte den aufsteigenden Dreiklang der Musik, wie von Hörnern, und »die Stimme«, diesen großartigen Wächter, »sehr hoch auf der Zinne«. Im Klangrausch feierte sich eine Freude, die zuvor »kein Aug’ je gespürt« (was waren das für wunderbare Augen, die spüren konnten!), »kein Ohr mehr gehört« hat. Daß der Name »Herr Jesu« fiel, schien mir eher unerheblich. Es ging um Ankunft, um Hochzeit, um eine unglaubliche Stadt, deren Pforten zwölf Perlen waren. Und offensichtlich ging es um das Singen selbst. Denn die, die sangen, waren nah bei den Engeln in dieser Stadt, »hoch« um den Thron versammelt.
    Auch wenn ich nicht verstand, verstand ich doch die ungeheure Überblendung. Das Hochzeitsfest schien gerade darin zu bestehen, daß Jerusalem, Zion und die Jungfrauen, getrennt und identisch zugleich, vielstrahlig leuchteten. Ja, es war Sprachlicht. (Später zitierte ein Freund Sartre: »Florence, c’est une ville, c’est une fleur, c’est une femme.«) Von der Stimme geweckt, ging der Chor in die Stimme ein, die eine Revolte des Jubels losbrach. Fraglos war »Wachet auf, ruft uns die Stimme« eine frühe Initiation in die Poesie.
    Viel später las ich, daß der lutherische Pastor Philipp Nicolai dieses Lied während der Pest im ausgehenden 16. Jahrhundert in Unna geschrieben hatte, und ich lernte die Bachsche Kantate kennen. Ein Wissenshof um das Kirchenlied wuchs. Ob ein Text aber zur Erfahrung wird, ist wohl unabhängig von seiner Einbettung in einen Bildungshorizont.
    Später dann fiel das Hohe Lied in den Echoraum einer komplizierten Sehnsucht. Und hier war sie auf einmal wieder, die Frau, die den Freund erwartet, er ist schon an der Tür und dann doch verschwunden. Sie läuft ihm nach und findet ihn nicht. Und die Wächter der Stadt sind hier niedere Wächter, die sie verletzen, ihr den Schleier nehmen. In ihrer Not bittet sie die anderen Jungfrauen, ihr suchen zu helfen. Und als die wissen wollen, woran man denn ihren Freund erkenne, erfindet sie Bilder, die »kein Aug’ je gespürt«. Tröstend, ja befreiend in der Verzweiflung schien mir, daß sie die Liebe sagen konnte. Und damit teilbar machte.
    Und dann kam der gute Wächter, der Freund. Er war der Wächter ihres Schlafs. An drei ganz unterschiedlichen Stellen des Hohen Lieds bittet er die Töchter Jerusalems inständig: »Weckt sie nicht!/Regt sie nicht/Bis sie selbst erwacht.«
    Wie Buchstaben haben auch ganze Texte eine seltsame Bindungsfähigkeit. Sie heften sich aneinander, sie überlagern sich, knüpfen Bezüge im erinnernden Bewußtsein dessen, der sie liest. Und manchmal kommen sie gerade in einer rationalen Gegenläufigkeit zusammen. Der Weckruf des Kirchenlieds zur Unio Mystica mischte sich für mich mit der Stimme des Bräutigams, der den Schlaf der Geliebten und damit die gemeinsame Nacht bewahren will. So geriet das Bild des Aufwachens in ein paradoxes Flimmern zwischen Ichfindung und Ichverlust.
    »Aber war es so nicht überhaupt«, könnte Brecht nun in unvergleichlicher Lakonie sagen. Ja, vermutlich war es so überhaupt. Deshalb schlagen wir die Augen auf und lesen

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