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Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Titel: Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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wohlbeleibter Häuptling lag schließlich japsend und keuchend auf dem Rücken wie ein Maikäfer und weinte Freudentränen.
    »Zieh deinen Nigger aus, Cannon!«, seufzte er schließlich, als er sich wieder ein wenig gefasst hatte.
    Major John W. Cannon aber schickte der Eclipse , die jetzt die riesige Sandbank vor Big Oak Tree passierte, einen gotteslästerlichen Fluch hinterher und sagte dann: »Sie muss einen Lotsen haben, der im Dunkeln sehen kann!«

10.
    Im Nordwesten von Melbourne erstreckte sich noch im Jahr 1867 über viele Quadratmeilen eine eigenartige, wüste Landschaft, zehn-, zwölfmal größer als die Stadt selbst. Es waren, schier endlos und von Horizont zu Horizont reichend, die Reste primitiver menschlicher Behausungen, eingefallene Bretterverschläge, Fetzen von Zeltleinwand, rostiger Schrott, mumifizierter Abfall. Es waren Zehntausende kleiner Gruben, manchmal nur aufgekratzte,
hastig ausgehobene Löcher, manchmal aber auch kleine Stollensysteme, die erstaunlich weit in die Erde reichten. Hier und da die Ruinen eines vor fünfzehn Jahren rasch aufgemauerten Vorratshauses, dessen hölzerne Dachkonstruktion längst eingefallen war.
    Der große Goldrausch von 1852 hatte binnen weniger Monate mehr Menschen nach Australien gespült als acht Jahrzehnte Deportation und Auswanderung zusammengenommen. Aber so schnell, wie sie gekommen waren, waren sie auch wieder verschwunden, die Heuschrecken des Goldes, weitergezogen in rastloser, unruhiger Hoffnung, nach Südafrika, nach Neuseeland, und hatten der Provinz Victoria und der Stadt Melbourne nur diese große, offene Wunde hinterlassen.
    Dem unbedarften Wanderer konnte es geschehen, dass hier unversehens der Boden unter seinen Füßen nachgab, weil die alten Stützbalken in der Tiefe moderten, brachen, und dann fand er sich drei, fünf, manchmal zehn Meter tief in der losen, nachbröckelnden Erde wieder. Blieb der Mann unverletzt, mochte er sich philosophisch fragen, wie in den niedrigen, schwarzen Gängen, die sich überall vor ihm öffneten wie in einem Insektennest, überhaupt Menschen gelebt hatten; brach er sich jedoch ein paar wichtigere Knochen und war er allein unterwegs, konnte er nur noch beten.
    Immer wieder, seit mehr als zehn Jahren, verschwanden gelegentlich Menschen in dem riesigen Labyrinth der ehemaligen Goldfelder von Melbourne. Neugierige kleine Jungen, Betrunkene, abenteuerlustige Trottel, die auf ein liegen gebliebenes Körnchen Gold hofften, oder Pärchen, die nach einem Ort für ungestörte Zweisamkeit suchten. Selbstverständlich bildete das wüste Gelände auch eine natürliche Zuflucht für Mörder, Räuber, Diebe, entlaufene Sträflinge, Schuldner, die Hefe der jungen Kolonialgesellschaft, und wann immer ein größeres Verbrechen geschah, schrie die Stadt, schrien Politiker, Geschäftsleute, Bürger nach der Einebnung und Nutzbarmachung des unüberschaubaren
Areals. Das aber erwies sich regelmäßig als zu teuer und wurde meist nach wenigen schwachen Versuchen, etwa vonseiten der Kirchengemeinden, wieder aufgegeben.
    Das Problem löste sich erst in den 1870er-Jahren, als eine gewaltige neue Einwanderungswelle auch Melbourne traf; die Stadtväter beschlossen, jedem willigen, fleißigen Immigranten den Grund und Boden zu schenken, auf dem er aus eigener Kraft ein Haus bauen und bewohnen würde. So verschlang die Stadt allmählich das große vernarbte Geschwür an ihrem Rand und dem ihrer Gesetze. 1867 aber wagten sich die Ordnungshüter der Victorian Police nur ungern in diesen menschengemachten Dschungel. Diese Arbeit überließ man privaten Ermittlern.

11.
    John Gowers jagte fast nur bei Nacht, weil sein außergewöhnliches Sehvermögen ihm dann einen Vorteil gegenüber seiner Beute verschaffte. Aber noch zwei andere Dinge machten die apokalyptische Wildnis der riesigen Geisterstadt für ihn durchschaubar: zum einen sein systematisches Gedächtnis, zum anderen die Tatsache, dass er sie nie bevölkert gesehen hatte. Keine Erinnerung an Gebäude, Straßen, Wege und die Orte, zu denen sie führten, stand zwischen ihm und der Wirklichkeit. Er bewegte sich ganz im Jetzt, fast wie ein Tier.
    Wie immer, wenn er in das Labyrinth eindrang, hatte er den Tag über nicht geraucht. Das machte ihn nervös und gereizt, schärfte aber andererseits seine Sinne und erleichterte die Jagd. Die meisten der armen Teufel da draußen in den Ruinen rauchten, was ihnen in die Hände fiel, und so konnte er sie riechen, lange bevor er sie hörte oder sah.

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