Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)
nächstgelegenen Station der Victorian Police – der korruptesten Polizeitruppe des gesamten britischen Kolonialreichs.
13.
Als die Eclipse gegen 11 Uhr 20 im Hafen von St. Louis anlegte, waren die angrenzenden Straßen schwarz von der Menge der jubelnden Zuschauer. Handwerksbetriebe und Geschäfte hatten ihre Mittagspause um eine Stunde vorverlegt, um ihren Angestellten Gelegenheit zu geben, den historischen Moment mitzuerleben. Da man den 4. Juli
schrieb, war es fraglich, ob vor dem abendlichen Feuerwerk überhaupt irgendjemand die Arbeit wieder aufnehmen würde.
Kapitän Andrew Wineland verließ das Schiff wie ein römischer Prokonsul, der Ägypten oder sonst etwas Hübsches in Besitz nimmt, und kümmerte sich anscheinend nicht um den Applaus, der ihn umbrandete. Dennoch ließ die Menge ihn und sein stolzes Schiff wieder und wieder hochleben, und sein Weg in die Stadt und ins Kontor seiner Reederei glich einem Triumphzug. Den Maschinisten und Heizern, die nach ihm von Bord gingen, konnte man dagegen ungeniert auf die Schultern klopfen, bis auch die eigenen Hände schwarz waren. Diese Männer trugen ihre rußverschmierte Arbeitskleidung so stolz wie eine preußische Gardeuniform, verteilten sich mit der Gemächlichkeit geborener Sieger auf alle Kneipen der Stadt und würden einen ganzen Tag lang weder für ihr Essen noch für ihre Getränke anders bezahlen müssen als mit launigen kleinen Anekdoten über die hinter ihnen liegende Rekordfahrt.
Es dauerte gute zwei Stunden, bis sich die erste Begeisterung gelegt und die Menge so weit zerstreut hatte, dass man an das Löschen der Ladung denken konnte. Die bestand vor allen Dingen aus etlichen Kisten Branntwein, die ein findiger Schnapsfabrikant von New Orleans heraufgebracht hatte und unter dem rasch gedruckten Etikett Eclipse, 4. Juli 1857 mit Angabe der Rekordzeit noch einige Jahre lang überteuert an den Mann brachte. Erst am späten Nachmittag verließ der Lotse das Schiff.
John Gowers hatte das Ruder im Morgengrauen, nach drei Tagen und elf Stunden Fahrt, aus der Hand ge- und seinem älteren Kollegen Archibald Yates übergeben und sich dann schlafen gelegt. Obwohl die Sonne schon tief stand, trug er eine Brille mit blau getönten Gläsern, an die er sich in den grellen Tagen des Südens so sehr gewöhnt hatte, dass er ihr Vorhandensein manchmal völlig vergaß. Hin und wieder sah er die Welt sogar schon in seinen Träumen blau.
Er war jetzt seit gut zwei Jahren auf dem Fluss. Ende 1854 aus England herübergekommen, um der Zwangsverpflichtung für den Kriegsdienst auf der Krim zu entgehen, hatte er sich im Golf von Mexiko
zunächst als Schmuggler versucht, aber dann beim Verkauf seiner Waren den Mississippi und den Beruf des Lotsen kennengelernt. Dessen Aufgaben kamen seinen persönlichen Fähigkeiten – dem fast schon zermürbend guten und durch die Methoden der Ars Memorativa 3 immer weiter trainierten Gedächtnis und seinem außergewöhnlichen Sehvermögen – so sehr entgegen, dass er nach kurzer Zeit seinen Platz in der Welt gefunden zu haben glaubte.
Seine Lehrzeit war von geradezu erschreckender Kürze. Nach nur fünf Fahrten auf der John Roe kannte er den Fluss und seine Eigenheiten so genau, dass kein Geringerer als Horace Bixby, eine Koryphäe des Lotsenstandes, kopfschüttelnd und bartkratzend verkündete, ihm nichts mehr beibringen zu können. Das Navigieren beherrschte er bereits vorher, und nach seiner langen Fahrt durch die unberechenbaren Eismassen und tückischen Strömungen der Nordwestpassage empfand der jetzt Einundzwanzigjährige auch das Steuern zwischen langsam wandernden Untiefen, Sandbänken und bröckelnden Uferböschungen als nahezu einfach.
So viel Erfolg wurde ihm natürlich weidlich missgönnt, und da er auch sonst ein merkwürdiger Bursche war, der sich von den Lustbarkeiten und Unterhaltungen seiner Kollegen eher absetzte und seltsame altenglische Bücher las, galt er als arrogant und wurde selten bei seinem Namen, sondern nur »der Engländer« genannt – mit aller Abfälligkeit, die die geborenen Amerikaner in diese Bezeichnung nur legen konnten. Neben der Literatur waren die Huren von New Orleans sein größtes Vergnügen; ein weiterer Umstand, den seine biederen, oft gar puritanischen Standeskollegen in entrüsteter, aber stiller Schärfe missbilligten.
Unbestritten waren allein seine Fähigkeiten. Aber auch die allein reichten natürlich nicht aus, um ihn in den Gemeinnützigen Lotsenverband –
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