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Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Titel: Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Gesichtern spüren, der anzeigte, dass sie die große Scheide von Wasser- und Luftmassen überschritten hatten. Als der Mond einmal kurz durch die Wolken brach, sahen sie, dass das Land ringsum völlig weiß geworden war, während die kleinen scharfen Schneekristalle an ihrer Kleidung nicht zu haften schienen und um sie herumtorkelten wie Sandkörner. Einen Moment lang blinkte sogar der Gipfel des Tongariro, den sie jetzt schon fast hinter sich hatten, über diesem Gewimmel auf wie ein Leuchtfeuer. Keiner sprach, keiner wagte auch nur, sich zu räuspern, in der seltsamen Stimmung, die sie bei diesem Anblick überkam, und lautlos wie ein Gespensterheer zogen sie über das vulkanische Hochplateau weiter.
    Von Tempsky, übermüdet wie alle anderen, hörte in seinem Kopf nicht mehr die wilde verwegene Jagd, sondern die Erinnerungen, die die Melodie ausgelöst hatte; Erinnerungen an Schlesien und die Mährische Pforte, an kleine dunkle Häuser, die sich an die Flanken von Odergebirge, Glaserberg und Altvater schmiegten  – und an die Stimme seiner Großmutter, die ihm vor über drei Dezennien am Herdfeuer seiner ersten Behausung auf Erden ein Kinderlied sang, an das er all die Jahre und Länder hindurch nicht mehr gedacht hatte.
    Und in dem Schneegebirge, da fließt ein Brünnlein kalt. Und wer des Brünnleins trinket, und wer des Brünnleins trinket, wird jung und niemals alt.
    Er wusste, dass es noch mehr als diese eine Strophe gab, aber auch als er sein Gedächtnis so sehr strapazierte, dass er den Weg vor seinen Füßen kaum noch wahrnahm, wollte ihm kein einziger Vers mehr einfallen.

94.
    Obwohl keine ihrer Verletzungen lebensbedrohlich war, hatte Darioleta den ganzen Tag über geweint und geschrien. Selbst als die alte Misses damit gedroht hatte, ihr nach den Ohren auch noch die Nase abzuschneiden, wenn sie nicht endlich still wäre, hatte sie keine Ruhe gegeben, sondern versucht, ihre Herrin anzuspucken  – in der Hoffnung, diese würde sie daraufhin töten. Dem verstümmelten Mädchen war alles egal. Ohne Ohren und Schneidezähne würde kein Mann sie mehr ansehen, an ihren zerschnittenen Brüsten würde niemals ein Kind liegen, und ihr Gesäß hatten die grausamen Schläge in eine blutunterlaufene Masse verwandelt. Madame Bonneterre hatte schließlich ein Einsehen und flößte ihr gewaltsam eine mäßige Dosis Morphiumtinktur ein, die Darioleta endlich einige Stunden Frieden schenkte.
    Desmond Bonneterre hatte sich nach den Anstrengungen der Nacht in sein Zimmer zurückgezogen und sogar den lautstarken Aufbruch der Miliz verschlafen. Seine Kämpfe und Verletzungen, aber auch seine Erfolge als Verhörspezialist enthoben ihn jeder weiteren Dienstpflicht, die ja ohnehin nur noch eine Art Aufräumen war. Er hatte den Männern den Weg gewiesen, die Informationen beschafft, die gebraucht wurden. Seine Arbeit war getan. Nach dem Aufwachen am frühen Nachmittag hatte er sich ein opulentes Mahl servieren lassen, dessen Reste noch auf dem Tisch standen. Anschließend hatte er die Tür abgeschlossen und den blutigen kleinen Leinenbeutel hervorgeholt, der Darioletas Ohren und Zähne enthielt. Neben dem feinen weißen Porzellan, zwischen Silberbesteck und Sauciere, breitete er diese Trophäen aus und genoss die erregenden Wogen des Machtgefühls, mit denen der Anblick sein krankes Gemüt überschwemmte.
    Die Ohren, ausgeblutet bis auf die schwarz verkrusteten Schnittränder, waren grau geworden und schrumpften bereits ein. Er befingerte sie, zog daran, schob sie auf dem weißen Tischtuch hin und
her und kicherte, als er kurzzeitig das linke nicht mehr vom rechten unterscheiden konnte. Dann versuchte er, die ausgeschlagenen Zähne in der richtigen Reihenfolge zwischen die Ohren zu legen. Aber einige waren abgebrochen, und er konnte nicht entscheiden, ob sie in den Ober- oder Unterkiefer gehört hatten. Der plötzlich auftauchende Gedanke, dieses makabre Spiel vor den Augen des unglücklichen Mädchens zu treiben, verschaffte ihm eine gewaltige Erektion. Er hatte gerade begonnen, seine Hose aufzuknöpfen, um sich die übliche Erleichterung zu verschaffen, als es klopfte.
    »Sir!?«, fragte ein Hoteldiener schüchtern.
    »Was, zum Teufel?!«, rief Bonneterre seiner Situation gemäß ungehalten.
    »Madame Bonneterre wünscht, Sie zu sprechen, Sir!«
    »Ich komme gleich.« Vielleicht wäre es auch möglich, aus den Zähnen eine Halskette zu machen.
    »Entschuldigung, Sir, aber Madame Bonneterre besteht auf Ihrer sofortigen

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