Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)
gastliche Aufnahme und ein Bett – das man allerdings manchmal gründlich entlausen musste, weil die Gäste ihres Mannes nicht immer ganz allein kamen, obwohl John Lafflin insgeheim ein Auge auf die Sauberkeit seiner neuen Bekanntschaften hatte. Auch Trunkenbolde oder Bettler kamen ihm nicht ins Haus. Das Einzige, was seine Gäste miteinander verband, waren gemeinhin eine Existenz am Rande der Gesellschaft und Lebensschicksale, die so farbig waren, dass Emma schon seit vielen Jahren keinen Roman mehr gelesen hatte. Ihre Romane kamen ins Haus und erzählten sich selbst.
Die meisten dieser ruhelosen Männer zogen nach einem guten Frühstück weiter, aber manchen verschaffte ihr Mann auch Anstellungen in den Fabriken und Handwerksbetrieben von St. Louis. Am geheimnisvollsten waren einige wenige alte Männer mit Landschaften anstelle von Gesichtern, die – zuletzt nur noch selten – stets nach Einbruch der Dunkelheit kamen und noch vor Morgengrauen wieder verschwanden und ihren Mann mit »Kapitän« anredeten, wenn sie glaubten, dass Emma es nicht hörte. Einer von ihnen war hier im Haus gestorben, und zum einzigen Mal in ihrem Eheleben hatte sie Tränen der Trauer in Johns Augen gesehen.
Der junge Mann, den er diesmal heimbrachte und der selbst bei Tisch seine blaue Brille nicht abnahm, war für Mrs. Lafflin also keineswegs die sonderbare Bekanntschaft, für die er sich selbst vermutlich hielt. Nach einem späten Abendessen, das unter Geplauder über den Mississippi und New Orleans vonstattengegangen war, zündeten die Männer sich Zigarren an, und obwohl sie, anders als in den meisten Haushalten des Südens, ohne Weiteres hätte bleiben können, zog Emma es vor, zu Bett zu gehen, als ihr Gatte sagte: »Ich bin Sozialist, Mr. Gowers.« Seit er vor einigen Jahren die Internationale Arbeitervereinigung von St. Louis gegründet hatte, der allerdings außer ihm selbst und seinem besten Freund, dem Maler De Franca, niemand angehörte, kannte sie das Gespräch, das jetzt folgen würde. Oder zumindest den Anteil, den ihr Mann daran hatte.
»Wissen Sie, was Sozialismus ist?«
»Ich habe davon gehört«, sagte John Gowers höflich. »Die Franzosen haben ihn erfunden, nicht wahr?«
Lafflin schmunzelte. »Den Sozialismus hat niemand erfunden, Mr. Gowers. Einige haben ihn als richtig erkannt und beschrieben, hier und da wurde auch schon versucht, ihn umzusetzen. Sozialismus ist im Kern der Gedanke, die Ungerechtigkeit unter den Menschen zu beseitigen, indem man die Eigentums- und Arbeitsverhältnisse reguliert.«
»Sie meinen: anders reguliert, Sir«, erwiderte John. »Anders als jetzt. Denn geregelt sind sie ja mehr oder weniger.«
»Geregelt im Sinne der Besitzenden, ja. Und deshalb so geregelt,
dass sich der Besitz einer Minderheit auf Kosten der Mehrheit immer stärker vergrößert. Der Sozialismus will das ändern, Mr. Gowers.«
»Daran sind schon die Gracchen gescheitert, Sir.«
Lafflin hob verwundert die Augenbrauen. Er war vor zehn Jahren ins alte Europa gereist, um in London, Amsterdam, Brüssel und Paris die Theoretiker des Sozialismus persönlich kennenzulernen. Da diese mehrheitlich aus ihren Heimatländern exilierten Leute gerade in den 1840er-Jahren dabei waren, ihren revolutionären Gedanken eine historische Dimension zu geben, waren ihm in den Diskussionen und Vorträgen immer wieder die Bodenreform der Gracchen und die von ihr ausgehende Revolution der römischen Republik begegnet. Dass ein Mississippilotse, noch dazu ein so junger Mann, anscheinend mit diesen Zusammenhängen vertraut war, weckte in ihm den Verdacht, dass John Gowers mehr über den Sozialismus wusste, als er gesagt hatte. Denn wie alle, die erst spät und über Umwege zur Geschichte gefunden haben, glaubte Lafflin, die Quellen seiner Erkenntnisse seien wenn nicht die einzigen, dann doch die maßgeblichen, und wusste nicht, dass man auch bei Gibbon, McCauly und Carlyle etwas über die Gracchen erfahren konnte.
»Dadurch wird der Gedanke ja nicht falsch«, sagte er vorsichtig.
»Nein, Sir«, stimmte John zu, »nur seine Durchführbarkeit steht infrage.«
»Dann meinen Sie, dass man sich mit den Ungerechtigkeiten zwischen Arm und Reich einfach abfinden sollte?«
»Sagen wir, ich glaube nicht, dass irgendeine Lehre oder Staatsform diese Ungerechtigkeit dauerhaft beseitigen kann. Das kann nur jeder für sich.«
Schweigend paffte der eigenartige Schießpulverfabrikant eine Weile vor sich hin, ehe er die entscheidende Frage
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