Flucht aus Lager 14
aus dem Ausland, vor allem US -Amerikaner, erhalten nur in seltenen Fällen eine Einreiseerlaubnis. Ich habe Nordkorea nur ein einziges Mal besucht. Ich sah das, was meine Aufpasser mir zeigen wollten, und erfuhr kaum etwas von Belang. Journalisten, die illegal einreisen, laufen Gefahr, monate- oder jahrelang als Spione im Gefängnis zu verbringen. Manchmal hilft dann nur noch die Unterstützung durch einen ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten, um wieder freizukommen. 5
Angesichts dieser Beschränkungen sind diemeisten Berichte über Nordkorea nichtssagend und wenig konkret. Abgeschickt aus Seoul, Tokio oder Peking, beginnen sie mit einer Schilderung der jüngsten Provokation Pjöngjangs, etwa der Versenkung eines Kriegsschiffs oder der Erschießung eines Touristen. Danach folgen die sattsam bekannten Rituale des Journalismus: US -amerikanische und südkoreanische Amtsträger äußern ihre Entrüstung. Ihre chinesischen Kollegen mahnen zur Zurückhaltung. Experten spekulieren darüber, was möglicherweise hinter der Aktion steckt. Ich habe auch jede Menge solcher Artikel geschrieben.
Shin sollte diese Konventionen durchbrechen. Sein Leben ermöglichte Außenstehenden einen Blick darauf, wie die Kim-Familie sich von Kindersklaverei und Mord ernährt. Einige Tage nach unserer ersten Begegnung wurden Shins sympathisches Foto und seine entsetzliche Geschichte auf der Titelseite der Washington Post an die Öffentlichkeit gebracht.
»Wow«, schrieb Donald G. Graham, der Vorsitzende der Washington Post Company, in einer lakonischen E-Mail, die ich am Morgen nach dem Erscheinen der Geschichte erhielt. Wie es der Zufall wollte, besuchte ein deutscher Filmemacher gerade an dem Tag, an dem der Artikel erschien, das Holocaust Memorial Museum in Washington und beschloss daraufhin, einen Dokumentarfilm über das Leben Shins zu drehen. Die Washington Post brachte einen Leitartikel, in dem es hieß, die Brutalität, die Shin habe erdulden müssen, sei skandalös, aber ebenso skandalös sei die Gleichgültigkeit der Welt gegenüber der Existenz der Zwangsarbeitslager in Nordkorea.
»In den Highschools in Amerika diskutieren Schüler darüber, warum Präsident Franklin D. Roosevelt die Eisenbahngleise, die in die Vernichtungslager Hitlers führten, nicht bombardieren ließ«, hieß es zum Schluss. »Ihre Kinder werden eine Generation später vielleicht fragen, warum der Westen auf die wesentlich schärferen Satellitenfotos von Kim Jong Ils Lager geblickt und nichts dagegen unternommen hat.«
Shins Geschichte schien den Lesern jedenfalls unter die Haut zu gehen. Sie schrieben Leserbriefe und schickte E-Mails, boten Geld und Unterkunft an und wollten für Shin beten.
Mein Artikel hatte Shins Leben nur in groben Zügen geschildert. In einer ausführlicheren Erzählung hoffte ich den geheimen Apparat entschleiern zu können, mit dem sich die totalitären Herrscher in Nordkorea an der Macht halten. Außerdem wollte ich zeigen – anhand der Details von Shins unglaublicher Flucht –, dass der Unterdrückungsapparat Lücken aufweist, da er einem weltfremden jungen Flüchtling erlaubt, unentdeckt zu Fuß das Land zu durchqueren und nach China zu gelangen. Genauso wichtig war mir, dass kein Mensch nach der Lektüre dieses Buchs über einen Jungen, den die nordkoreanische Regierung nur zu dem Zweck aufgezogen hatte, ihn sich zu Tode schuften zu lassen, in Zukunft die Existenz solcher Lager würde ignorieren können.
Ich fragte Shin, ob er Interesse an diesem Projekt habe. Es dauerte danach neun Monate, bis er sich entschieden hatte. Während dieser Zeit drängten ihn Menschenrechtsaktivisten in Südkorea, Japan und den Vereinigten Staaten, doch mitzumachen. Sie sagten ihm, ein Buch in englischer Sprache werde die Aufmerksamkeit der Welt auf sich ziehen, den internationalen Druck auf Nordkorea verstärken und ihm vielleicht einiges Geld einbringen, das er dringend benötigte. Nachdem Shin eingewilligt hatte, stand er für sieben Runden von Interviews zur Verfügung, zuerst in Seoul, später in Torrance, Kalifornien, und schließlich in Seattle, Washington. Shin und ich einigten uns darauf, sämtliche Einkünfte aus diesem Projekt fifty-fifty zu teilen. Diese Vereinbarung sah außerdem vor, dass ich die Kontrolle über die Inhalte behielt.
Im Frühjahr 2006, etwa ein Jahr nach seiner Flucht aus dem Lager, begann Shin mit der Niederschrift eines Tagebuchs. Nachdem er in Seoul wegen Depressionen eine Zeitlang im Krankenhaus
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