Flucht aus Lager 14
behandelt worden war, setzte er seine Aufzeichnungen fort. Das Tagebuch wurde die Grundlage für seinen koreanisch verfassen Bericht »Ausbruch in die Außenwelt«, der 2007 vom Database Center for North Korean Human Rights in Seoul veröffentlicht wurde. Dieser Bericht war dann der Ausgangspunkt für unsere Interviews und zugleich die Quelle für zahlreiche der wörtlichen Zitate, die in diesem Buch ihm selbst, seiner Familie, den Gefängniswärtern sowie Bekannten in Nordkorea und China zugeschrieben werden. Doch alle Gedanken und Handlungen Shins, von denen auf den folgenden Seiten berichtet wird, stützen sich auf die Interviews mit ihm, in deren Verlauf er seinen koreanisch verfassten Erinnerungsbericht erweiterte und in vielen Fällen korrigierte.
Obwohl er mit mir zusammenarbeitete, hatte ich den Eindruck, dass Shin nur widerstrebend mit mir sprach. Immer wieder kam ich mir wie ein Zahnarzt vor, der ohne Betäubung im Zahn eines Patienten bohrt. Dieses Bohren erstreckte sich mit Unterbrechungen über gut zwei Jahre. Einige unserer Sitzungen hatten eine befreiende Wirkung, andere lösten bei ihm dagegen Depressionen aus.
Es fiel ihm schwer, Vertrauen zu mir zu fassen. Er gibt bereitwillig zu, dass er überhaupt Schwierigkeiten hat, anderen Menschen zu vertrauen. Dies ist wohl die zwangsläufige Folge der Umstände, unter denen er aufgewachsen ist. Die Wärter im Lager hatten ihn angehalten, seine Eltern und Freunde zu bespitzeln, und so musste er annehmen, dass jeder, mit dem er zusammenkam, wiederum ihn verraten würde.
Beim Schreiben dieses Buchs hatte ich gelegentlich selbst Probleme, ihm zu vertrauen. Während unseres ersten Interviews schenkte er mir über seine Rolle bei der Hinrichtung seiner Mutter keinen reinen Wein ein, und ähnlich verhielt er sich bei über einem Dutzend weiterer Gespräche. Als er seine Geschichte dann änderte, fragte ich mich, was er sich vielleicht sonst noch ausgedacht hatte.
Eine Überprüfung von Fakten ist in Nordkorea selbst nicht möglich. Außenstehende haben die politischen Straflager des Landes nie kennengelernt. Berichte über das, was in ihrem Inneren vorgeht, lassen sich nicht von unabhängiger Seite überprüfen. Auch wenn Satellitenfotos einen wesentlichen Beitrag zu unserem Wissen über die Lager geleistet haben, sind Flüchtlinge noch immer die hauptsächlichen Informationsquellen. Doch ihre Motive und ihre Glaubwürdigkeit sind nicht makellos. Sie haben häufig große Probleme, sich ihren Lebensunterhalt zu sichern, und sind daher bereit, vorgefasste Meinungen von Menschenrechtsaktivisten, antikommunistischen Missionaren und rechtslastigen Ideologen zu bestätigen. Manche Lagerflüchtlinge verlangten Geld für ihre Aussagen. Andere gaben reißerische Anekdoten vom Hörensagen wieder, ohne selbst Augenzeuge gewesen zu sein.
Obwohl Shin sich mir gegenüber weiterhin vorsichtig zeigte, beantwortete er jede Frage über seine Vergangenheit, die ich ihm stellte. Sein Leben mag unglaublich erscheinen, doch es entspricht den Erfahrungen anderer ehemaliger Häftlinge in den Lagern und den Schilderungen ehemaliger Lagerwärter. »Alles, was Shin erzählt hat, deckt sich mit dem, was ich über diese Lager gehört habe«, sagte David Hawk, ein Menschenrechtsaktivist, der Shin und mehr als zwei Dutzend weitere ehemalige Häftlinge von Arbeitslagern befragt hatte. Die Antworten erschienen in »The Hidden Gulag. Exposing North Kore a ’s Prison Camps«, einem Bericht, der Schilderungen von Überlebenden mit kommentierten Satellitenbildern verknüpft. Erstmals veröffentlicht wurde er 2003 vom U. S. Committee for Human Rights in North Korea, und nachdem weitere Zeugenaussagen und bessere Satellitenbilder verfügbar waren, wurde er aktualisiert. Hawk wies darauf hin, dass Shin aufgrund seiner Geburt, Kindheit und Jugend im Lager Dinge wusste, die andere Überlebende nicht wissen konnten. Die Geschichte Shins wurde zudem von den Autoren des von der Korean Bar Association herausgegebenen »White Paper on Human Rights in North Korea« überprüft. Sie führten ausführliche Interviews mit Shin und weiteren bekannten ehemaligen Lagerhäftlingen, die bereit waren, sich befragen zu lassen. Wie Hawk schreibt, gibt es für Nordkorea nur eine einzige Möglichkeit, die Aussagen von Shin und anderen Lagerüberlebenden zu »widerlegen, zu bestreiten oder zu entkräften«, nämlich Experten aus dem Ausland zu erlauben, die Lager zu besichtigen. Solange dies nicht der Fall sei, erklärt
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