Flucht aus Lager 14
Hochspannungszaun zugezogen hat.
Shin ist etwa so alt wie Kim Jong Un, der pummelige dritte Sohn von Kim Jong Il, der nach dem Tod seines Vaters 2011 dessen Platz als Führer einnahm. Als Altersgenossen repräsentieren sie die Antipoden von Privileg und Armut in Nordkorea, einer angeblich klassenlosen Gesellschaft, in der tatsächlich allein die Herkunft und der Zugang zu Bildung über das Schicksal des Einzelnen bestimmen.
Kim Jong Un wurde als kommunistischer Prinz geboren und wuchs in den Mauern eines Palasts auf. Seine höhere Bildung erhielt er unter einem anderen Namen in der Schweiz, bevor er wieder nach Nordkorea zurückkehrte, um dort an jener Eliteuniversität zu studieren, die den Namen seines Großvaters trägt. Aufgrund seiner Abstammung steht er über dem Gesetz, alles ist möglich für ihn. So wurde er 2010 zum Vier-Sterne-General der nordkoreanischen Volksarmee ernannt, obwohl ihm jegliche militärische Erfahrung fehlte. Ein Jahr nachdem sein Vater an einem plötzlichen Herzinfarkt gestorben war, schilderten ihn die staatlichen Medien Nordkoreas als »einen weiteren Führer, den der Himmel geschickt hat«. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass man ihn zwingt, seine irdische diktatorische Macht mit Verwandten und Militärführern zu teilen.
Shin dagegen wurde als Sklave geboren und wuchs hinter einem unter Hochspannung stehenden Stacheldrahtzaun auf. Unterrichtet wurde er in einer Schule im Lager, wo er rudimentär lesen, schreiben und rechnen lernte. Da seine Abstammung durch die »Verbrechen« der Brüder seines Vaters einen Makel hatte, genoss er nicht den Schutz des Gesetzes. Für ihn standen keinerlei Möglichkeiten offen. Was der Staat für seinen Lebensweg vorbestimmt hatte, waren schwere Arbeit und ein vorzeitiger Tod, verursacht durch Krankheiten, die ein durch Hunger geschwächter Körper nicht abwehren kann – das alles ohne eine Anklage, ein Gerichtsverfahren oder die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen. Und alles im Geheimen.
Die Geschichten vom Überleben in deutschen Konzentrationslagern haben einen konventionellen Erzählverlauf: SS -Männer entreißen den Protagonisten Familie und Heim. Um zu überleben, gibt er seine moralischen Grundsätze auf, unterdrückt seine Gefühle für andere und ist schließlich kein zivilisiertes menschliches Wesen mehr.
In der vielleicht berühmtesten dieser Geschichten, Die Nacht des Friedensnobelpreisträgers Elie Wiesel, verdeutlicht ein 13-jähriger Junge seine Qualen durch die Schilderung des normalen Lebens, das er und seine Familie geführt hatten, bevor sie alle in einen Güterzug gepfercht wurden, dessen Ziel ein deutsches Todeslager war. Der junge Wiesel hatte bis dahin täglich im Talmud gelesen, sein Vater besaß ein Handelsgeschäft und war in der jüdischen Gemeinde in einem Siebenbürger Städtchen hoch geachtet. Sein Großvater war an den jüdischen Feiertagen stets anwesend. Doch nachdem seine ganze Familie in den Todeslagern umgekommen war, fühlte sich Wiesel »allein, furchtbar allein in einer Welt ohne Gott, ohne Menschen. Ohne Liebe oder Mitgefühl«.
Die Geschichte von Shins Überleben verlief anders.
Seine Mutter schlug ihn, und er sah in ihr eine Rivalin um die Essensrationen. Sein Vater, dem die Aufseher nur fünfmal im Jahr erlaubten, eine Nacht bei seiner Frau zu verbringen, schenkte ihm keinerlei Beachtung, sein Bruder war für ihn ein Fremder. Den Kindern im Lager konnte man grundsätzlich nicht trauen, und sie misshandelten sich gegenseitig. Bevor man ihm überhaupt etwas beibrachte, lernte Shin zu überleben, indem er alle anderen denunzierte.
» Liebe«, » Mitgefühl« und » Familie« waren für Shin Wörter ohne Bedeutung. Gott war nicht verschwunden oder tot. Shin hatte nie von ihm gehört.
Im Vorwort zu einer englischen Ausgabe von »Die Nacht« schrieb Wiesel, das Wissen eines Heranwachsenden über den Tod und das Böse solle sich auf das beschränken, was man in der Literatur entdecke.
Im Lager 14 wusste Shin nicht einmal, dass es Literatur gab oder was der Begriff überhaupt bedeutete. Das einzige Buch, das er im Lager jemals sah, war eine koreanische Grammatik in den Händen eines Lehrers, der die Uniform eines Aufsehers und einen Revolver an der Hüfte trug und eine seiner Mitschülerinnen in der Grundstufe zu Tode prügelte.
Im Unterschied zu all jenen, die ein Konzentrationslager überlebt haben, wurde Shin nicht aus einem zivilisierten Leben herausgerissen und gezwungen, in eine Hölle
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