Flucht aus Lager 14
übrigen Welt auf sich ziehen. Shin wusste nicht einmal von der Existenz Südkoreas, Chinas und der Vereinigten Staaten.
Anders als seine Landsleute wuchs er nicht mit den unvermeidlichen Fotos des » Geliebten Führers« auf, wie Kim Jong Il genannt wurde. Ebenso wenig kannte er die Fotografien und Statuen von Kims Vater, Kim Il Sung, dem » Großen Führer«, der Nordkorea gegründet hatte und bis heute der » Ewige Präsident« des Landes ist, obwohl er schon 1994 verstarb.
Zwar war Shin als Häftling zu unwichtig, um ihn einer Gehirnwäsche zu unterziehen, wie sie den Nordkoreanern üblicherweise zuteil wird, aber man erzog ihn dazu, seine Eltern und seine Schulkameraden zu bespitzeln. Als Belohnung erhielt er zusätzliche Essensrationen, und gemeinsam mit den Wärtern verprügelte er die Kinder, die er verriet. Die wiederum ihn verpetzten und sich daran beteiligten, wenn er von den Wärtern geprügelt wurde.
Als ihm einer der Wärter die Augenbinde abnahm und er die Menge vor sich sah, den Pfahl und den Galgen, war Shin überzeugt, dass er hingerichtet werden sollte.
Doch man stopfte ihm keine Kieselsteine in den Mund. Seine Handschellen wurden ihm abgenommen, dann führte ihn ein Wärter ganz nach vorn. Er und sein Vater sollten Zuschauer sein.
Die Wärter zerrten eine Frau mittleren Alters zum Galgen und banden einen jungen Mann an den Pfahl – es waren Shins Mutter und sein älterer Bruder.
Ein Wärter legte seiner Mutter eine Schlinge um den Hals. Sie versuchte Shin in die Augen zu schauen, doch er sah zur Seite. Als ihr Körper am Ende des Seils nicht mehr zuckte, wurde Shins Bruder von drei Wärtern erschossen. Jeder gab drei Schüsse ab.
Während er mit ansah, wie die beiden starben, war Shin erleichtert, dass es nicht ihn getroffen hatte. Er war wütend auf seine Mutter und seinen Bruder, weil sie die Flucht geplant hatten. Und er wusste, dass er für ihre Hinrichtung verantwortlich war, was er jedoch in den nächsten 15 Jahren für sich behielt.
EINLEITUNG
Im Lager hörte er nie das Wort »Liebe«
Neun Jahre nachdem seine Mutter im Lager gehängt worden war, arbeitete sich Shin durch einen Hochspannungszaun und flüchtete im Schnee nach Norden. Es war der 2. Januar 2005. Bis zu diesem Tag war noch keinem, der in einem der politischen Arbeitslager Nordkoreas geboren worden und aufgewachsen war, die Flucht gelungen. Nach allem, was man weiß, ist Shin bis heute immer noch der Einzige.
Er war 23 Jahre alt und kannte keinen Menschen außerhalb des Lagers.
Einen Monat später erreichte er die chinesische Grenze, und nach zwei Jahren traf er in Südkorea ein. Vier Jahre später lebte er in Südkalifornien und war Senior Ambassador für die Organisation Liberty in North Korea (LiNK), eine US -amerikanische Menschenrechtsgruppe.
In Kalifornien fuhr er mit seinem Fahrrad zur Arbeit, wurde Anhänger des Baseballteams Cleveland Indians (da dort ein Südkoreaner namens Shin-Soo Choo der Star der Mannschaft war) und aß zwei- bis dreimal in der Woche im In-N-Out Burger, weil es dort die seiner Ansicht nach besten Burger gab.
Sein Name ist Shin Dong-hyuk. * So nennt er sich, seit er in Südkorea angekommen ist, damit versuchte er, sich als einen freien Menschen neu zu erfinden. Er sieht gut aus und hat lebendige, wache Augen. Ein Zahnarzt in Los Angeles hat sich seiner Zähne angenommen, die er im Lager nicht pflegen konnte. Seine physische Verfassung ist insgesamt sehr zufriedenstellend, sein Körper ist jedoch gezeichnet vom harten Leben in einem der Zwangsarbeitslager, deren Existenz die nordkoreanische Regierung bis heute beharrlich bestreitet.
Wegen der unzureichenden Ernährung im Lager ist Shin eher klein und mager – er misst 1,67 Meter und ist knapp 55 Kilogramm schwer. Seine Arme sind infolge der Kinderarbeit gekrümmt, der untere Teil seines Rückens und das Gesäß übersät mit Brandmalen, die ihm seine Peiniger zugefügt haben. In der Haut über seinem Schambein ist die Stichnarbe von einem Haken zu sehen, mit dem er über dem Feuer festgehalten wurde. Seine Knöchel zeigen die Spuren der Abschürfungen durch die Fußfesseln, an denen man ihn aufhängte. Am Mittelfinger seiner rechten Hand fehlt das erste Glied. Ein Wärter schnitt es ihm ab, weil ihm in einer Textilfabrik eine Nähmaschine aus der Hand gerutscht und auf den Boden gefallen war. Seine beiden Schienbeine weisen von den Knöcheln bis zu den Knien Narben auf, Folgen der Verbrennungen, die er sich bei seiner Flucht durch den
Weitere Kostenlose Bücher