Flucht im Mondlicht
Schule.«
»Du warst die Klassenbeste, soweit ich mich erinnere«, sagte Onkel Amin nickend. »Deine Eltern waren so stolz, als du zur Universität von Kabul zugelassen wurdest. Besonders dein Vater. Möge Allah seine Seele segnen.«
»Das ist sehr lange her«, erwiderte Safuna mit einem tiefen Seufzer.
»Wie war die Lage in Kabul bei eurer Abreise?«, fragte Onkel Amin. »Wir hörten, dass dieses Jahr eine große Dürre herrschte.«
»Ja, dieses Jahr war es wirklich schlimm«, sagte Safuna. »Die Trockenheit vernichtete die Ernten. Die Lebensmittel wurden knapp. Viele Leute haben in ihrer Not Gras gegessen. Gras! Kannst du dir das vorstellen?«
Onkel Amin schüttelte traurig den Kopf.
»Als die Taliban kamen, herrschte so viel Hoffnung«, sagte Habib und rieb sich die geröteten Augen. »Nun sind Kämpfe mit der Nordallianz ausgebrochen. Sie sind alle gleich – machtgierig und überheblich.«
»Was ist bloß los mit den Leuten?«, knurrte Onkel Amin und ballte die Hände um das Lenkrad. »Gibt es keinen Anstand mehr?«
»Krieg, Krieg, immer nur Krieg«, klagte Safuna. Fadi sah, dass diese Diskussion sie nur noch mehr erschöpfte, und drückte ihren Arm. Er wollte nicht, dass sie wieder Atemnot oder einen Hustenanfall bekam.
Safuna blickte lächelnd zu ihm hinüber und nahm seine Hand. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorn.
»Vielleicht liegt uns das im Blut«, sagte Onkel Amin kopfschüttelnd. »Afghanistan wurde so oft von fremden Mächten besetzt. Von den Persern, den Griechen, den Arabern, den Türken, den Mongolen, den Briten und dann von den Sowjets …«
Fadi hörte nur mit halbem Ohr zu. Er kannte das Thema schon.
»Aber vielleicht sind wir selbst unser schlimmster Feind«, sagte Habib ruhig. »Wir führen ständig Krieg, entweder gegen andere oder untereinander. Niemand konnte die Afghanen besiegen, aber nach Jahrhunderten des Krieges ist unser Land heillos zerstritten und gehört zu den ärmsten der Welt.«
Da die Erwachsenen ihr düsteres Gespräch fortsetzten und Salmai mit seinem Gameboy spielte, ließ Fadi sich in den verschossenen braunen Ledersitz sinken und schaute aus dem Fenster. Als der Wagen über die San-Mateo-Brücke fuhr, starrte er mit einem mulmigen Gefühl auf das aufgewühlte, mit weißen Schaumkronen überzogene Wasser der Bucht von San Francisco. Fasziniert presste er die Nase gegen die Scheibe. Es kam ihm vor, als könnte er die Hand hinunterstrecken und das kühle Wasser berühren. Eine Seemöwe glitt tief über die Wellen. Sie schien sich einfach vom Wind treiben zu lassen, ohne die Flügel zu bewegen. Das unruhige Wasser schillerte in Farbtönen von Blau bis Grün und stellenweise sogar lila. Fadi dachte an ein Buch aus dem geheimen Buchladen, das er im Vorjahr gelesen hatte: Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer . Er fragte sich, was für Geschöpfe wohl unter der bewegten Wasseroberfläche lauerten.
Kurz bekam Fadi ein flaues Gefühl im Magen, als würd e er ein bisschen seekrank. Sie fuhren beängstigend dicht über dem Wasser. Afghanistan war von Land umgeben. Die nächste Küste war die des Arabisches Meeres, das rund fünfhundert Kilometer südlich lag. Selbst als Fadis Familie in Wisconsin gelebt hatte, hatte er nie das Meer gesehen. Das war das erste Mal, dass er so einer Menge Wasser so nahe war. Abertausende Liter von schimmerndem Wasser flossen unter ihnen vorbei. Mariam wäre begeistert gewesen .
Das Wiedersehen
Eine kleine Rauchwolke quoll aus dem Auspuff des Dodge, als er von der Brücke fuhr. Während sie auf der Interstate 880 weitere fünfzehn Kilometer nach Süden unterwegs waren, breitete sich eine friedliche Stille im Wagen aus. Fadi beobachtete die Autos, die vorbeirasten, und staunte über ihre Geschwindigkeit. In den letzten paar Jahren hatte er ihr Haus in der Shogund-Straße kaum verlassen. Obwohl die Taliban für mehr Ordnung in der Stadt gesorgt hatten, war es gefährlich geblieben, aus dem Haus zu gehen. Safuna hatte beschlossen, Fadi, Noor und Mariam zu Hause zu unterrichten, auch weil die Taliban alle Mädchenschulen geschlossen hatten.
Fadi entdeckte neue weiße Strähnen im Haar seines Vaters und empfand plötzlich Mitleid mit ihm. Habib war damals nach Afghanistan zurückgekehrt, um beim Wieder aufbau des Landes zu helfen, aber es war anders gekommen, als er erwartet hatte. Anfangs hatte er gehofft, an der agrarwissenschaftlichen Fakultät der Universität von Kabul lehren zu können. Die 1931 gegründete
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