Flucht im Mondlicht
Fadi. So viele Leute suchen nach ihr . Die Verspannung zwischen seinen Schulterblättern löste sich etwas.
»Amen«, murmelten alle im Raum.
Fadi warf einen Blick auf seine Mutter. Tränen hingen in ihren Wimpern. Da kamen seine Schuldgefühle wieder hoch. Er versuchte sie zu verdrängen und blickte sich im Raum um. Alle machten ernste Gesichter. Selbst die jüngeren Kinder waren still. Die Vorstellung, ganz allein in einer fernen fremden Stadt herumzuirren, musste sie in Angst und Schrecken versetzen. Wenn sie wüssten, dass es meine Schuld war, dass Mariam zurückblieb, würden sie mich bestimmt hassen .
Um Fadi herum entspann sich eine lebhafte Unterhaltung über ihre Flucht … und über Mariam.
»Armes Kind«, flüsterte jemand dicht an seinem Ohr.
Aufgeschreckt wandte Fadi sich um und sah, dass Oma Abai sich neben ihn gesetzt hatte. Sie legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter und zog ihn an sich. Fadi wurde steif, doch dann entspannte er sich in ihrem Arm, der nach Kardamom und Zimt roch. Er fragte sich, ob sie ihm die Schuld vom Gesicht ablesen konnte. Er wich ihrem forschenden Blick aus und wandte das Gesicht ab.
Oma Abai tätschelte ihm die Wange und reichte ihm ein Glas Orangenlimonade. Dankbar stürzte er die kühle Erfrischung in seine trockene Kehle. Dampfende Teller mit Essen wurden herumgereicht, während Habib der Runde erzählte, dass bisher zwar weder das amerikanische Konsulat noch Nargis eine Spur von Mariam hatten, aber dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis sie gefunden wurde. Die Flüchtlingshilfe der Vereinten Nationen hatte ein Rundschreiben über Mariam losgeschickt, und Habibs Professor und dessen Söhne hörten sich in Dschalalabad nach ihr um.
Tante Nilufer häufte eine große Portion Kabuli Palau – Reis mit Lammfleisch – auf Fadis Teller. Er machte sich darüber her und genoss die kandierten Karotten und Rosinen. Es gab auch Spinat, gebratene Auberginen mit Joghurt und Hühnereintopf. Oma Abai legte ihm noch zwei Mantu auf. Fadi blickte auf die beiden dicken gefüllten Teigtaschen in Fleischsoße und hatte plötzlich keinen Hunger mehr. Mantu waren Mariams Lieblingsgericht.
Nach dem Mittagessen schlenderte Fadi in den hinteren Teil des kleinen Hauses, weil er dem Gedränge im Wohnzimmer entfliehen wollte. Salmai hatte ihm angeboten, ihm seine Sammlung von Videospielen zu zeigen, aber die interessierte ihn nicht. Er verzog sich in die leere Küche.
Die Tür zur Vorratskammer stand einladend offen. Er schlüpfte hinein und hockte sich auf den Boden, zwischen einen Sack Reis und ein Regal voller Konservendosen und Gewürzen. Dort saß er ein paar einsame Minuten, als er plötzlich Schritte aus dem Korridor hereinkommen hörte.
»Nun sag schon, Safuna, was ist geschehen?«, fragte eine besorgte Stimme.
Fadi spähte durch den Spalt zwischen Tür und Rahmen und sah seine Tante Nilufer. Er wich ins Dunkel zurück, als Stühle aus der kleinen Essecke beim Fenster herausgezogen wurden.
»Ich habe es gar nicht richtig mitbekommen«, erwiderte Safuna. »Wir warteten am vereinbarten Treffpunkt, als der Lastwagen kam. Es war schon spät, weit nach Mitternacht, und wir hasteten zum Lastwagen. Noor hat mich praktisch getragen, weil ich so krank war. Habib eilte mit den Koffern voraus. Fadi und Mariam liefen hinterher. Dann, innerhalb von Sekunden, brach um uns herum ein völliges Chaos aus … Dutzende von Leuten tauchten aus dem Nichts auf und stürmten auf den Lastwagen zu.«
»Ach du meine Güte«, murmelte Tante Nilufer.
»Es ist meine Schuld, dass Mariam von uns getrennt wurde, weißt du«, flüsterte Safuna.
Fadi erstarrte. Ihre Schuld? Er spähte wieder durch den Spalt und sah die gebeugten Schultern seiner Mutter.
»Du darfst dir nicht die Schuld geben, Safuna, Jan !«, rief Tante Nilufer.
»Sie ist mein Baby. Ich bin ihre Mutter. Es ist alles meine Schuld«, stieß Safuna hervor und begann heftig zu schluchzen.
Fadi sah, wie ihre Schultern zuckten, als Tante Nilufer Papiertaschentücher holte. Er schloss die Augen, um ihre Tränen nicht zu sehen, aber ihre verzweifelten Schluchzer waren nicht zu überhören.
»Hör auf, dich zu quälen, Safuna. So darfst du nicht denken«, versuchte Tante Nilufer ihre Schwester zu trösten.
»Du verstehst nicht, was ich meine«, sagte Safuna. »Wenn ich nicht so krank wäre, hätte ich auf sie aufpassen können. Aber stattdessen kümmerten sich alle um mich . Noor und Habib waren so damit beschäftigt, mich auf den Lastwagen
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