Flucht im Mondlicht
Universität war einst die beste in ganz Asien, das intellektuelle Herz des Landes. Aber nach vielen Jahren des Krieges war sie so stark beschädigt, dass sie geschlossen werden musste.
Nachdem Habib mitgeholfen hatte, die Opiumernten zu vernichten, hatte er in der Innenstadt von Kabul einen kleinen Kurzwarenladen eröffnet, um seine Familie ernähren zu können. Ab und zu hatte er Fadi dort mitarbeiten lassen. Die Innenstadt von Kabul war ein Gewirr aus Straßen und Gassen, in denen sich Autos, Eselkarren und Menschen drängten.
Fadi starrte durch das Fenster auf die Mauern links und rechts der mehrspurigen Schnellstraße, die die Häuser, Einkaufszentren und Parks dahinter vor Lärm schützten. Alles wirkte so groß und so neu.
Onkel Amin wechselte vorsichtig auf die rechte Fahrspur und nahm die Ausfahrt Thornton Avenue nach Fremont. Sie kamen an einer Grundschule vorbei und fuhren eine Straße entlang, die von Geschäften, Teehäusern, Restaurants und einem kleinen Theater gesäumt war. Als Fadi die Fensterscheibe herunterkurbelte, um frische Luft hereinzulassen, wehte ihm der Duft von frisch gebackenem Brot in die Nase. An vielen Geschäften sah er Schilder mit vertrauten persischen Schriftzeichen.
»Das ist Klein-Kabul, ein Stückchen Heimat fern von Afghanistan«, scherzte Onkel Amin und lachte schallend.
»Wirklich?«, fragte Habib und schaute zum Seitenfenster hinaus. Eine Gruppe von Frauen in langen Gewändern und Kopftüchern spazierte vorbei.
»In Fremont lebt die größte afghanische Bevölkerungsgruppe der Vereinigten Staaten«, erklärte Onkel Amin. »Hier gibt es Dutzende von afghanischen Restaurants, Cafés und Geschäften. Man kann auf eine Tasse Tee vorbeischauen und erfährt die letzten Neuigkeiten.«
»Es muss nett sein, hier zu wohnen«, sagte Safuna.
»Ja, es hat viele Vorteile. Nilufer findet hier alle Zutaten, die sie für ihre berühmten Kebabs und Pulaos braucht.«
Beim Gedanken an Kebabs begann Fadis Magen zu knurren. Er hatte im Flugzeug nicht viel gegessen und war hungrig.
»So, da sind wir«, sagte Onkel Amin, bog nach rechts in eine Wohnstraße ab und hielt neben einem einstöckigen braunen Schindelhaus, vor dem ausladende Rosenbüsche wuchsen.
Sie waren kaum aus dem Wagen gestiegen, als die Ha ustür aufflog und eine Gruppe Frauen und Kinder herausstürmte.
»Ihr seid da!«, rief eine Frau in einem wallenden Gewand. Sie sah aus wie eine jüngere Version von Safuna, aber sie hatte einen modischen Kurzhaarschnitt und dunkelgrüne Augen.
»Nilufer«, rief Safuna und stolperte auf ihre Schwester zu, um sie in die Arme zu schließen. Plötzlich brachen beide in Tränen aus und begannen gleichzeitig zu reden.
»Ach du lieber Himmel«, murmelte Salmai und warf seinem Vetter einen verlegenen Blick zu, den Fadi mit einem Grinsen erwiderte.
Hinter Safuna und Nilufer stand ein älteres Paar. Das sind bestimmt Onkel Amins Eltern, Oma Abai und Opa Dada , dachte Fadi.
Habib trat vor und küsste die alte Frau auf die Wange. » Salam alaikum «, sagte er ehrerbietig. »Es freut mich sehr, euch beide wiederzusehen.«
»Ich danke Allah, dass ihr wohlbehalten hier angekommen seid«, erwiderte sie. Ihre Stimme war dünn wie ein Spinnennetz. Sie küsste Habib auf die Stirn und dann auf die Wangen.
Von Verwandten umringt wurden Fadi und seine Familie ins Haus geführt. Im Laufe der nächsten halben Stunde lernte Fadi etliche Leute kennen, darunter Onkel Amins zwei Brüder und deren Frauen und Kinder. Safuna wurde i n ein Schlafzimmer gebracht, damit sie sich ein wenig ausruhen konnte, obwohl sie zunächst protestierte und ihrer Schwester helfen wollte. Die anderen Frauen zogen sich in die Küche zurück, um unzählige Platten mit Essen herzurichten. Die Männer tauschten die letzten Neuigkeiten aus, während die Kinder Teller und Besteck verteilten.
»Lasst mich vor dem Essen ein Gebet sprechen«, sagte Onkel Amin eine Stunde später. Die Familie saß um den traditionellen Dastarkhan , ein auf dem Boden ausgebreitetes Tischtuch, auf dem das Essen stand. »Wir danken Allah, dass Bruder Habib und seine Familie unversehrt nach San Francisco gelangten.«
Als er eine Pause machte, verkrampften sich Fadis Nackenmuskeln.
»Möge Allah auch über die tapfere kleine Mariam wachen, die, Inschallah , bald gefunden und zu uns gebracht wird.«
»Dutzende von Leuten suchen nach ihr«, sagte Habib. »Sie wird bald gefunden werden.«
Vater hat recht. Sie wird bald gefunden werden , dachte
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