Flucht im Mondlicht
Kebabs und Reis auf den Tisch.
Hoffentlich , dachte Fadi. Er blickte mürrisch auf den Artikel über Karzais Hoffnungen für die afghanische Übergangsregierung. Vielleicht würde in Afghanistan nun vieles besser werden. Vielleicht hätten sie noch ein halbes Jahr länger dort ausharren sollen. Vielleicht hätten sie das Land dann gar nicht verlassen müssen und Mariam nicht verloren. Fadi seufzte. Das waren zu viele Vielleichts.
Die Entscheidung
Fadi rannte durch die Flure, die mit Erntedank-Girlanden dekoriert waren. Es hatte soeben zur Mittagspause geläutet und der Fotoklub traf sich im Atelier. Miss Bethune hatte alle Mitglieder zusammengerufen, weil sie am Vortag die Ergebnisse des Fotowettbewerbs erhalten hatte.
Heute ist der Tag der Entscheidung . Fadi schlitterte um ei ne Ecke und riss in seiner Hast einem Papiertruthahn den Kopf ab. Am Eingang des Ateliers blieb er einen Aug enblick stehen und fuhr sich mit einer Hand durch das zerzauste Haar. Aus dem Augenwinkel sah er die rot-silbernen Turnschuhe von Miss Bethune neben ihrem Schreibtisch auftauchen. In der letzten Nacht hatte er kein Auge zugetan. Er konnte an nichts anderes denken als an die Flugtickets. Im Geiste sah er sich mit seinem Vater nach Indien fliegen und dann ein Flugzeug nach Peschawar nehmen. Mariam ist in Peschawar und ich werde sie finden . Fadi holte tief Luft und ging durch die Tür.
Miss Bethune räusperte sich und bat die Kinder, sich zu setzen. »Ähm«, machte sie noch einmal. Sie presste die Lippen zusammen und deutete auf einen großen Umschlag aus Manilapapier, den sie in der linken Hand hielt.
»Das ist die Entscheidung«, flüsterte Anh.
Fadi nickte wie ein betrunkener Truthahn und nahm neben ihr Platz.
Anhs Augen funkelten vor Zuversicht. »Ich wünsch dir viel Glück, Fadi.«
»Ich dir auch«, flüsterte Fadi zurück. Seine Zunge war trocken und klebte an seinem Gaumen, als hätte er ein ganzes Glas Erdnussbutter ausgeleckt.
Alle Gesichter im Raum blickten gespannt zu Miss Bethunes Schreibtisch. Ravi war nicht da, weil solche Situationen ihn so nervös machten, dass er sich gewöhnlich übergeben musste. Bei wichtigen Prüfungen bekam er immer einen Platz in einer Ecke und einen Mülleimer, für alle Fälle. Weil er nicht da sein konnte, hatte er Fadi seine Telefonnummer gegeben, damit jemand ihm berichten konnte, wie der Wettbewerb ausgegangen war.
»Also«, sagte Miss Bethune und räusperte sich erneut. »Bevor ich euch die Ergebnisse mitteile, möchte ich euch sagen, dass ihr alle tolle Arbeit geleistet habt, ob ihr gewonnen habt oder nicht. Der Wettbewerb war hart. Es wurden mehr als tausend Fotos eingereicht.«
Die große Zahl löste im Raum erstauntes und entsetztes Gemurmel aus. Fadi schluckte. Die Gewinnchance beträgt weniger als ein Zehntel Prozent .
»Ungeachtet der Ergebnisse werden wir alle zusammen die Ausstellung besuchen, die am Samstag in zwei Wochen im Exploratorium stattfindet. Denkt also daran, bis Ende der Woche die Einverständniserklärungen eurer Eltern unterschrieben abzugeben.«
»Ja, schon gut«, murmelte Anh. Sie knackte mit den Fingern und kniff die Augen zusammen. »Keine langen Vorreden, kommen wir zur Sache.«
Fadi starrte gebannt auf die Hände von Miss Bethune, als sie den Umschlag öffnete und ein paar Seiten herauszog. Sein Herz schlug schneller, als sie den Text auf dem Deckblatt überflog und umblätterte.
»Ähm …« Ihr Räuspern hallte durch den stillen Raum.
»Auf den dritten Platz kam Emily Johnston aus der neunten Klasse der Del-Campo-Highschool in Sacramento.«
»Gut«, flüsterte Anh. Sie zwinkerte Fadi zu. »Wer will schon auf dem dritten Platz landen.«
Fadi rang sich ein schwaches Lächeln ab. Der dritte Platz würde mir nichts nützen .
Miss Bethune blickte wieder auf die Seite hinab. Ihre Augen weiteten sich. »Den zweiten Platz erreichte …« Sie blickte in die Richtung von Fadi, dem fast das Herz stehen blieb. »… Anh Hong aus der sechsten Klasse der Brookhaven Middle School in Fremont!«
Im Raum brach Jubel und Applaus aus.
»Gratuliere!«, sagte Fadi zu Anh und umarmte sie.
Anh saß völlig perplex da, mit einem ungläubigen Ausdruck auf dem Gesicht. Sie war sprachlos, wahrscheinlich zum ersten Mal in ihrem Leben.
»Es war wirklich ein tolles Action-Foto«, sagte Fadi und klopfte ihr anerkennend auf den Rücken.
»Ich fass es nicht«, flüsterte sie schließlich.
Als die Aufregung sich legte, fuhr Miss Bethune fort. »Eine großartige
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