Flucht in die Hoffnung
Düsseldorf war, hatte ich schon
nach wenigen Stunden … Fernweh? Nein, ich hatte Heimweh nach Tunesien. Ich
konnte mir nicht länger vorstellen, meine beruflichen Pläne als Coach
tatsächlich zu verwirklichen. Was sollte ich im kalten Deutschland? Ich wollte
zurück in die Sonne zu den dunkelhäutigen Menschen, die so herzlich lachten.
»Meine Pläne in Deutschland passen nicht zu meiner neuen Liebe in
Tunesien«, sagte ich zu meiner Oma.
»Man muss der Stimme seines Herzens folgen«, antwortete sie und
zwinkerte mir zu. »Besonders, wenn sie zu einem Arzt führt.«
Meine Oma fand es klasse, dass ihre Enkelin einen Arzt zum Freund
hatte. Ein Arzt im Haus erspart das Krankenhaus oder so ähnlich.
Wenn meine Mutter noch gelebt hätte, wäre es mir vielleicht schwerer
gefallen, Deutschland zu verlassen. Doch sie war nur siebenundvierzig Jahre alt
geworden. Mutter starb auf dem Heimweg von ihrem Arbeitsplatz in einer
Werbeagentur in Düsseldorf. Meine Eltern hatten sich in der Nähe der Großstadt
ihren Lebenstraum in Gestalt eines alten Bauernhauses erfüllt, das sie zehn
Jahre lang in jeder freien Minute renovierten. Seit zwei Jahren war das Haus
fertig. Meine Mutter wollte beruflich noch einmal richtig durchstarten. Sie war
eine Macherin: tatkräftig, kontaktfreudig, lebensbejahend, fröhlich, mutig. Ein
polnischer Geisterfahrer, übermüdet und betrunken, raste auf der Autobahn frontal
in ihren Wagen. Sie hatte keine Chance gehabt.
In der ersten Reihe an ihrem Grab standen meine elfjährige Schwester
und mein Vater, der ohne sie völlig hilflos war. Meine Eltern waren beide
Grafiker gewesen, später wandte sich mein Vater ganz der Kunst zu. Da war kein
Raum für das normale Alltagsleben, Bankgeschäfte, Behördengänge, Bürokratie,
das organisierte alles meine Mutter.
Ich hatte meine Mutter zum letzten Mal am Flughafen gesehen. Zwanzig
Jahre war ich damals alt und studierte in England. Nach einem Besuch zu Hause
sollte mich eigentlich mein Vater zum Flughafen bringen, so war es abgemacht.
»Ich möchte lieber von Mama gebracht werden.«
»Das ist doch Unsinn«, widersprach mein Vater. »Ich fahre ohnehin in
die Stadt und …«
Ich setzte meinen Willen durch. Wenig später wusste ich, warum.
Meine Mutter begleitete mich bis zur letzten Sicherheitskontrolle. Dort
umarmten wir uns lange. Wahrscheinlich sagte ich so etwas wie »Bis bald!« oder »Bis zum nächsten Mal!« .
Der plötzliche Tod meiner Mutter riss ein schwarzes Loch in mein
Leben. Nicht Abschied nehmen dürfen, sich nicht vorbereiten können darauf, dass
jemand geht, das ist hart.
Ich hatte ein wunderbares Verhältnis zu meiner Mutter, sie war meine
engste Vertraute und beste Freundin. Sie erlaubte mir eigentlich alles. Mit
zwölf in die Disco, mit vierzehn war ich übers Wochenende allein zu Hause in
Düsseldorf, weil meine Eltern ihr Bauernhaus renovierten. Sie vertrauten mir,
und ich nutzte ihr Vertrauen nicht aus. Heute denke ich, dass mir mit einer
strengeren Erziehung vieles, was in meinem Leben später geschah, erspart geblieben
wäre.
Aber vielleicht war es auch nicht die fehlende Strenge, sondern
vielmehr dieses hohe Maß an Vertrauen, das meine Eltern in mich und andere
setzten. Manche Menschen hüten Liebe und Vertrauen ängstlich, andere
verschenken beides großzügig und ohne Bedingung. So war ich, und neben allem
Schmerz, den Farid mir zufügen sollte, tat es doppelt weh, dass er mir dieses
Urvertrauen nahm.
Farid wollte nicht nach Europa, was mir nur recht war, da ich
die Sonne und das Meer so mochte.
»Wenn du in Tunesien leben willst, könntest du als Reiseleiterin
arbeiten«, schlug er mir am Telefon vor. »Was willst du denn sonst machen? Du
musst das Geld für uns zwei verdienen, denn ich studiere ja noch.«
»Kein Problem!«, rief ich und war
überglücklich. Schließlich hatte er mich in seiner unnachahmlichen Art gerade
eingeladen, das Leben mit ihm zu verbringen. Plötzlich tat sich eine Zukunft
für mich auf. Ein Leben, das auf Liebe gründete.
Also bewarb ich mich bei einem großen deutschen Reiseveranstalter
als Reiseleiterin, wurde angenommen und zu einer Schulung auf Mallorca
eingeladen. Als ich die Zusage schwarz auf weiß in den Händen hielt, beendete
ich meine Hospitanz bei dem Coach, von dem ich in der Vergangenheit so viel
gelernt hatte. Er zeigte großes Verständnis für meine Entscheidung.
»Was für eine schöne Perspektive! Das freut mich für dich, und ich
beneide dich. Ich würde nur zu gern
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