Flucht in die Hoffnung
PROLOG
Wir sitzen in einem Boot.
Wie oft schon hatte ich diese Redewendung gehört und auch selbst so
dahingesagt – und keine Ahnung gehabt, was das bedeuten konnte: in einem Boot
zu sitzen.
Dieses Boot, in dem ich mehr kauerte als saß, kam mir vor wie eine
Nussschale, so schutzlos fühlte ich mich angesichts seines Zustands. Es
handelte sich um einen ausrangierten Fischkutter, der in seinen besten Tagen
dicht an der tunesischen Küste geschippert war. Ob er überhaupt noch
seetauglich war? Die Bordwände waren nicht einmal mannshoch, eine schützende
Reling gab es nicht. Bis nach Italien sollte er uns bringen – uns, das waren
rund einhundertzwanzig verzweifelte Tunesier, die vor den Unruhen und der
Arbeitslosigkeit flohen, und mittendrin meine Tochter und ich.
Wie tief muss die Verzweiflung sein, dass ein Mensch sich irgendwelchen
Schleppern anvertraut und eine Überfahrt nach Europa erkauft? Dass er all die
Schicksale derer ignoriert, die auf einer ebensolchen Fahrt erstickt oder
ertrunken sind? Dass er sich in ein Boot zwängt, das den Namen kaum verdient?
Warum wagt es jemand, alles hinter sich zu lassen und sein Leben aufs Spiel zu
setzen, um zu fliehen?
Weil die Alternative noch schrecklicher wäre. Weil Armut oder Gewalt
einen zerstören können. Weil hinter allem diese innere Stimme nicht erloschen
ist, die einem sagt, dass der Kampf um Freiheit und ein menschenwürdiges Dasein
niemals aussichtslos ist. Dass es gut gehen kann, gut gehen wird …
Genau das sagte auch ich mir, seit ich an Bord geklettert war.
Dicht an dicht hockten wir, sodass kaum eine Zigarette
dazwischengepasst hätte. Wenn einer auch nur das Bein bewegen, in eine andere
Stellung wechseln wollte, hatte das Auswirkungen auf alle; wir waren
miteinander verbunden in einer wabernden Welle. Ein eingeschlafener Fuß, ein
eingeschlafener Arm, jedes Husten pflanzte sich fort und wurde ausbalanciert
von allen.
Als das Boot schon längst überfüllt war, kam einer der Schlepper und
pferchte uns noch enger zusammen. Mindestens zwanzig weitere Männer kletterten
an Bord, alle ohne Gepäck. Was sie besaßen, trugen sie am Leib. Für manche war
ihr Leib alles, was sie hatten. Ihr Leib und die Hoffnung, die wir teilten.
Dass unsere Nussschale es schaffen möge. Dass wir nicht kenterten, dass kein
Marineschiff uns rammte, dass wir aus dem Wasser gezogen wurden, wenn ein Sturm
aufkäme. Dass wir von den unsäglichen Flüchtlingsdramen verschont bleiben
würden, die man in den Medien nur bruchstückhaft mitbekam. Jeder von uns
wusste, dass diese Überfahrt sein Leben kosten konnte. Für mich war es doppelt
arg, denn ich hatte für zwei Menschen entschieden. Für mich und für meine Tochter
Emira.
Aber dies war unsere einzige Aussicht auf ein gemeinsames Leben
daheim in Deutschland. All meine Versuche, zusammen mit meiner Tochter auf
legalem Weg auszureisen, waren in den vergangenen Jahren gescheitert.
Eines war klar: Ewig konnten wir uns nicht verstecken. Irgendwann in
diesen Tagen, zwischen dem unbändigen Wunsch, meiner Tochter ein freies Leben
ohne Gewalt zu ermöglichen, und der Angst, entdeckt zu werden mit allen
Konsequenzen, gab es plötzlich nur noch den Weg nach vorn. Das Schlepperboot
nach Lampedusa war unsere letzte Chance.
»Mama, wann sind wir da?«, fragte Emira
mit einer Stimme, als sei sie ein Kleinkind und nicht das große achtjährige
Mädchen.
»Bald«, behauptete ich, ohne es zu wissen. Ich bemühte mich, mir
meine Angst nicht anmerken zu lassen. Emira sollte sich sicher fühlen an meiner
Seite, endlich sicher. Dabei wusste ich nicht einmal, ob wir überhaupt ankommen
würden.
»Dort«, ich wies Richtung Sonne, obwohl das wahrscheinlich falsch
war, aber für mich war es in diesem Augenblick wahr. »Dort liegt Europa.«
»Und da, kuck mal, Mama …« Emira zeigte auf die Küste. »Das ist
Djerba!«
»Ja, tatsächlich! Du hast recht.«
Emira winkte Richtung Land, winkte ihrem Vater, der keinesfalls
freudig am Strand stand und zurückwinkte, sondern uns wahrscheinlich noch immer
verbissen suchte. Wie viele Schergen hatte er diesmal auf uns angesetzt?
»Bislema, Baba!«, sandte Emira ihm einen
Gruß. Auf Wiedersehen, Papa!
Ob sie ihn jemals wiedersehen würde? Ob sie ihn überhaupt
wiedersehen wollte, nach allem, was geschehen war? Ich würde ihn ihr nicht
wegnehmen, so wie er es umgekehrt versucht hatte.
»Bye-bye, Farid«, sagte ich mit tonloser Stimme, denn in mir war
nichts als Leere. Da gab es kein Gefühl mehr
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