Flucht ins Ungewisse
eine Augenbraue skeptisch hoch. „Wie du meinst. Wir sehen uns morgen“, sagte er, als er schließlich die Beifahrertür aufmachte und sich auf den Sitz warf.
„Ja, bis dann!“
„Hey, Lucas! Deine Freundin?“, hörte ich die Stimme seiner Schwester noch, bevor er die Tür zuschlug. Sie klang bittersüß und ähnelte schon beinahe dem Zischen einer Schlange. Sie winkte mir kurz zu, worauf ich schnell wegsah. Sie hatte wirklich etwas Unheimliches an sich. Noch dazu, weil sie zu schimmern schien, aber nicht so weiß wie die anderen.Sondern dunkel wie die Nacht selbst.
„Und, wie war dein erster Schultag hier?“, stocherte Margret, nachdem wir endlich auf dem Heimweg waren. „Hattest du Spaß?“
Na klar, als die Neue hatte ich so viel Spaß wie ein Kleinkind, das man zu den Alligatoren warf.
Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Normal, schätz ich.“
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sie leicht nickte. Ihre lange gerade Nase wies winzige weiße Narben auf, die sie angeblich von ihrer früheren Katze hatte.
Für sie waren Gespräche mit mir immer anstrengend. Für mich waren sie nur eins: unnötig. Sie wusste nie, was sie sagen oder tun sollte. Gar nichts!
Aus Verlegenheit schaltete sie das Radio an und irgendein Britney-Spears-Verschnitt trällerte aus den Boxen. Margret trommelte mit den Fingern am Lenkrad den Takt mit. Total falsch, muss man dazu sagen …
Ich ließ mich etwas tiefer in den Sitz sinken und drückte den Rucksack an meine Brust. Wenn mein Leben so weitergehen würde – die schimmernden Attraktionen auf der anderen Seite der Fensterscheibe mal weggerechnet –, dann könnten sie mich bald einliefern. Und zwar in die Geschlossene, weil ich ’nen Mord begehen würde …
Draußen rauschte eine Baumallee an mir vorbei und warf ein Spiel aus Schatten und Licht auf mein Gesicht. Sobald ich die Augen schloss, sah ich massenhaft Blitze vor mir in der Dunkelheit. Erschrocken riss ich die Augen wieder auf und lehnte den Kopf an die kühle Fensterscheibe, starrte emotionslos in den Himmel empor.
Ein paar Vögel zogen über uns hinweg. Sie waren frei, konnten hinfliegen, wohin auch immer sie wollten. Weit weg von ermordeten Müttern und schimmernden Menschen. Mit etwas Glück konnten sie auch sich selbst entfliehen.
So frei sein , sinnierte ich.
Margret bog nach etwa acht Minuten Schnellstraße in den kiesbesetzten Weg, der zu unserem Haus führte. Mein neues Leben war wirklich am Arsch der Welt … Zum Glück würde ich ab morgen Dads zweites Firmenauto benutzen dürfen.
Wir parkten vor der Garage, sie stellte den Motor ab, ließ das Radio aber laufen, was nichts Gutes bedeuten konnte. Ich überlegte, ob ich einfach türmen sollte, aber Margret legte mir eine Hand auf den Arm, der immer noch krampfhaft den Rucksack festhielt – jetzt erst recht.
Sie drehte sich mit einer besorgten Miene zu mir. „Lora, Liebes“, begann sie. Ich hasste es, wenn sie mich so nannte. Es hatte auch eine halbe Ewigkeit gedauert sie von Lory auf Lora umzustimmen. „Du siehst in letzter Zeit so unglücklich aus. Mehr als sonst.“ Ach, was … „Dein Dad und ich machen uns Sorgen um dich.“
Sie starrte mich an. Als ob ich vor ihr mein Herz ausschütten würde … Als ob sie mir glauben würde!
Ich setzte ein falsches Lächeln auf, das jedem Politiker alle Ehre gemacht hätte, und lockerte meinen Klammergriff. „Es ist alles in Ordnung.“ Damit schüttelte ich sie ab, stieg aus und knallte die Tür zu.
Sie sollte sich nicht mit Dingen beschäftigen, die sie nichts angingen. Sie war immerhin nicht meine Mutter. Mutter …
Da hier in der Nähe kein Schwein lebte, war es anscheinend nicht nötig, die Eingangstür abzuschließen, obwohl ich der Plastikbarbie jetzt schon tausendmal erklärt hatte, dass mich das in lähmende Angstzustände versetzte. Ich war in einer Großstadt aufgewachsen, wo mein Leben von Einbrüchen und Raubmorden – und gestellten Selbstmorden – begleitet worden war.
Wütend trabte ich in mein Zimmer hoch, schleuderte meinen Rucksack aufs Bett und trat gegen meinen Schreibtisch, um etwas Dampf abzulassen. Bis auf einen pochenden Schmerz in meinem Fuß änderte es jedoch nichts. Im Gegenteil, dadurch spürte ich wieder diese Müdigkeit, die mich schon den ganzen Tag hinunterzog. Waren das noch die Ausläufer des Fiebers? Aber es fühlte sich so seltsam an. So fremd.
Matthew Tempson:
„Und dennoch fühlt es sich gut an …“
Mir war kalt und doch irgendwie heiß. Mein
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